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Journalistin Owsjannikowa über ihren Kriegsprotest„Meine Ex-Kollegen sind Putins Geiseln“

Lesezeit 6 Minuten
Marina Owsjannikowa protestierte im russischen Staatsfernsehen gegen den Krieg. Bereuen tut sie die Aktion nicht.

Die durch ihren Kriegsprotest im russischen Fernsehen bekannt gewordene Journalistin Marina Owsjannikowa erwägt, dauerhaft in Deutschland zu bleiben.

Marina Owsjannikowa (44), damals Journalistin beim russischen Staatsfernsehen, hielt am 14. März 2022 in einer Live-Nachrichtensendung ein Anti-Kriegs-Schild in die Kamera.

Frau Owsjannikowa, Sie befanden sich im Herbst 2022 im Hausarrest in Moskau und warteten auf einen Prozess. Wie konnten Sie von dort entkommen?

Marina Owsjannikowa: Es gelang dank der Hilfe der Organisation „Reporter ohne Grenzen“. Mein Anwalt sagte mir, dass nur die Flucht blieb, um dem Gefängnis zu entgehen. Zum Glück war meine damals elfjährige Tochter bei mir, für die mir ein Gericht später, als wir schon außer Landes waren, das Sorgerecht entzog. Ohne sie hätte ich Russland nie verlassen. Wir wählten Freitagnacht, wenn die Sicherheitskräfte ins Wochenende gehen. Tatsächlich wurde ich erst am Montag zur Fahndung ausgeschrieben.

Doch genau in dem Moment, als es losgehen sollte, kam meine Mutter – sie überwachte mich besser als die Polizei! Sie hatte das Auto vor meinem Haus gesehen und spürte, dass etwas nicht stimmte. Schließlich konnte ich sie abwimmeln. Meine elektronische Fußfessel schnitt ich später im Auto mit einer speziellen Drahtschere ab und warf sie aus dem Fenster.

Insgesamt wechselten wir siebenmal das Fahrzeug. Kurz vor der Grenze steckte es im Schlamm fest. Wir mussten zu Fuß weiter durch Felder und konnten uns nur an den Sternen orientieren. Es war abenteuerlich, aber wir haben es geschafft.

Wie haben Sie den Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine erlebt?

Es war ein emotionaler Schock. Keiner im Sender wusste vorher Bescheid. Nie hätte ich mir einen Krieg zwischen Russen und Ukrainern vorstellen können. Beide Völker stehen einander sehr nahe. Es ist, als würde ich ein Gewehr nehmen und meine beiden Cousins töten, die in der Ukraine leben. Mein Vater war Ukrainer, aber er starb, als ich fünf Monate alt war. Als Kind musste ich mit meiner Mutter aus Grosny fliehen, nachdem russische Truppen unsere Wohnung zerstört hatten. Deshalb berührt mich das Schicksal ukrainischer Frauen und Kinder, die nun ebenfalls ihr Zuhause verlieren, sehr.

Vor genau einem Jahr wagten Sie Ihre Plakat-Aktion im russischen Staats-TV. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Ich war so wütend, dass ich nicht schweigen konnte. Zuerst wollte ich im Zentrum von Moskau protestieren. Alles war vorbereitet, aber mein Sohn hinderte mich daran, indem er mir meinen Autoschlüssel wegnahm. Dann beschloss ich, ein Zeichen beim Ersten Kanal zu setzen, der zu Putins Propaganda-Maschine gehört.

Sie waren jahrelang selbst ein Teil dieser Maschine.

Ja, ich habe 2003 dort angefangen. Zu Beginn war es ein normaler Sender mit echten Nachrichten, aber Schritt für Schritt baute Putin ihn für seine Zwecke um. 20 Jahre lang zerstörte er alle unabhängigen Medien in Russland. Geblieben sind nur die Regimetreuen, die Fake News verbreiten.

Trotzdem wollten Sie auch später diesen Propaganda-Job nicht verlassen?

Ich dachte immer wieder darüber nach, aber wusste nicht, was ich sonst machen sollte. Oppositionelle Medien gab es ja kaum noch. Persönlich hatte ich eine schwierige Zeit mit einer Scheidung, zwei Kindern, einem unfertigen Haus. Heute schäme ich mich, denn ich wusste die ganze Zeit, dass der Kreml lügt und Verschwörungstheorien verbreitet. Ich fühlte mich nicht wohl dabei, aber ich arbeitete hinter dem Bildschirm, ohne mein Gesicht zu zeigen.

Manche beschimpften mich in Nachrichten als Ratte, als Verräterin.
Marina Owsjannikowa

Im Frühjahr 2022 ließen Sie sich für „Die Welt“ engagieren, um als Reporterin in der Ukraine zu berichten. Dafür wurden Sie heftig kritisiert. Verstehen Sie, warum?

Ja, das war mein Fehler. Die Ukrainer wollen keine Leute mit russischem Pass sehen, während russische Truppen ihr Land zerstören. Mein Ziel war es, Russen zu zeigen, was dort wirklich passiert. Doch die Ukrainer bezeichneten mich als Spionin. Zugleich beschimpfte man mich in Russland als Verräterin.

Trotzdem gingen Sie im Sommer vorigen Jahres zunächst wieder zurück nach Moskau.

Ja, denn sonst hätte ich meine Tochter jahrelang nicht mehr gesehen und mein regimetreuer Ex-Mann hätte sie beeinflusst. Natürlich hatte ich Angst, dass man mich ins Gefängnis steckt. Aber Putin befürchtete, dass ich dann zur Heldin würde. Sie fanden einen anderen Weg, um mein Leben kaputtzumachen. Im Internet zirkulieren Verschwörungstheorien über mich. Mein Verhalten hat den Kreml überrascht. Es passte nicht in ihr Koordinatensystem, das auf Lügen und Korruption aufbaut.

Sie verstanden nicht, wie das Gewissen einer Person derart erwachen kann, dass sie bereit ist, alles zu verlieren, nur um endlich die Wahrheit zu sagen. Da sie mich nicht belangten, protestierte ich weiter. Ich spielte russisches Roulette! Denn jedes Wort gegen den Krieg, das auf russischem Gebiet ausgesprochen wird, ist unbezahlbar. Schließlich wurde ich für eine Videobotschaft auf Facebook zum Hausarrest verurteilt, aber nicht für das Poster während der Fernsehsendung.

Wie blicken Sie auf das aktuelle Kriegsgeschehen?

Dieser Krieg wird an dem Tag enden, an dem Putin stirbt. Es ist der Krieg eines einzigen Mannes. Sein Regime muss zerstört werden, er ist ein Kriegsverbrecher, der vor den Internationalen Strafgerichtshof gehört. Einen guten Ausweg gibt es nicht. Putin hat die Zukunft unseres Landes vernichtet. Die Ukraine muss gewinnen. Deshalb braucht sie starke Unterstützung und Waffen aus dem Westen.

In Deutschland traten Sie gerade in einer Sendung neben Sahra Wagenknecht auf. Was halten Sie von ihrer Forderung nach Friedensverhandlungen?

Sahra Wagenknecht ist Putins Lieblingspropagandistin. Schon bei der Annexion der Krim zeigte das russische Fernsehen Leute wie sie oder den ungarischen Premierminister Viktor Orbán gerne: Seht her, europäische Politiker unterstützen Putins Politik. Die Rufe nach Verhandlungen sind unfassbar. Soll man mit einem Kriegsverbrecher und Mörder sprechen? Putin muss von westlichen Politikern isoliert werden.

Leider hat er immer noch Unterstützer in Europa und im Nahen Osten, wo es anti-amerikanische Stimmungen gibt. Manche wünschen sich vor allem, dass der Krieg und das Blutvergießen enden. Das ist unmöglich mit Putin. Wenn man eine Vereinbarung machen würde nach dem Vorbild der Minsker Verträge, wäre es nur eine Pause für ihn. Er würde die Truppen neu aufbauen und wieder angreifen – auch Moldau, Polen, Lettland und andere. Putin will die Sowjetunion wiederherstellen.

Sie haben ein Buch über Ihre Erfahrungen geschrieben. Wie sehen nun Ihre Pläne aus?

In meinem Buch „Zwischen Gut und Böse“ wollte ich aus dem Inneren beschreiben, wie das russische Fernsehen zu einer Propagandamaschine wurde. In Zukunft plane ich Projekte mit „Reporter ohne Grenzen“, um mich für Frieden einzusetzen, politische Gefangene in Russland und vor allem Frauen zu unterstützen. Ich will öffentlich gegen Putins Regime sprechen. Meine ehemaligen Kollegen folgen mir in den sozialen Netzwerken und ich versuche, ihre Meinung zu ändern. Viele sind resigniert, da sie wissen: Wenn sie protestieren, wird er ihr Leben zerstören. Sie sind Putins Geiseln.

Haben Sie viele Freunde in Russland verloren?

Ja, manche beschimpften mich in Nachrichten als Ratte, als Verräterin. Auch meine Mutter und mein 18-jähriger Sohn haben den Kontakt abgebrochen, weil sie Putin unterstützen – seine Gehirnwäsche wirkt sogar bei ihnen. Doch ich sende ihnen weiterhin viele Nachrichten, vor allem über das, was in der Ukraine passiert. Echte News, keine Propaganda. Meine Angst ist, nicht nach Russland zurückzukommen und meine Mutter nicht mehr in die Arme schließen zu können, bevor sie irgendwann krank wird und stirbt.

Bereuen Sie heute Ihre Aktion?

Nein, denn jeder sollte gegen den Krieg aufbegehren. Wer still bleibt, unterstützt Putins Kriegsverbrechen. Wer für ihn Propaganda betreibt, unterzeichnet einen Vertrag mit dem Teufel.