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Immer noch ein Brennpunkt?Berliner Rütli-Schule hat die Wende geschafft

Lesezeit 6 Minuten
Die Rütli-Hauptschule im Berliner Stadtbezirk Neukölln, aufgenommen im März 2006.

Die Rütli-Hauptschule im Berliner Stadtbezirk Neukölln

Die Stimmung an der Schule vor 18 Jahren war geprägt von Zerstörung, Gewalt und menschenverachtendem Verhalten auch Lehrern gegenüber. Heute ist das anders.

Der Besuch an der einstigen deutschen Problemschule beginnt mit einem schwarz gekleideten Sicherheitsmann. Er fragt den Reporter unwirsch, was er hier eigentlich vorhabe. Nach kurzer Erklärung geht es mit Geleitschutz zum Büro von Kerstin Ruoff, der ständigen Vertreterin der Schulleitung. Der Schulhof des Rütli-Campus im Berliner Stadtteil Neukölln sieht, abgesehen vom Sicherheitspersonal, mittlerweile eigentlich ganz normal aus.

Ein Zustand, den viele flüchtige Beobachter der ehemaligen Rütli-Schule noch vor einigen Jahren kaum zugetraut hätten. Obwohl die Wände hier auch heute noch mit Graffiti verziert sind: Schüler genießen gewaltfrei ihre Pause. Ein Lehrer steht mit einer Zigarette auf den Lippen neben einem Papierkorb und trinkt Kaffee aus einer gestreiften Tasse mit gebrochenem Henkel.

Es gibt mittlerweile mehr Eltern, die ihre Kinder hier anmelden wollen und mehr Lehrer, die hier unterrichten wollen, als unterkommen können. Im Büro der Schulleitung sitzt heute Kerstin Ruoff an einem alten, hölzernen Schreibtisch. Sie leitet die Schule seit 2023 als ständige Vertreterin und ist seit 2016 hier tätig.

Hauptproblem früher: Mangelnde Perspektiven

Schon damals waren die schlimmen Zustände, die die Rütli-Schule berüchtigt gemacht hatten, Vergangenheit. Noch immer, so berichtet Ruoff, müsse sie gelegentlich die Polizei rufen. Selten wegen krasser Gewalttaten, sondern meist, weil jemand aus Spaß den Feueralarm betätigt hat. Dennoch sei der Sicherheitsmann am Eingang nötig, auch wenn er sich größtenteils nur um den Einlass von Gästen kümmere.

18 Jahre früher hätte er sich nicht auf diese Tätigkeiten konzentrieren können. So stellt es zumindest ein berühmter Brandbrief dar, der der Schule zu bundesweiter Aufmerksamkeit verhalf: „Türen werden eingetreten, Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Flurwänden gerissen“, klagte das Kollegium 2006 darin. Auch die Lehrer selbst würden öfter mit Gegenständen beworfen.

Die Rütli-Schule im Problembezirk Neukölln war damals eine Brennpunktschule. Rund 85 Prozent der Schüler lebten von staatlichen Transferleistungen. Bei nur 15 Prozent war die Muttersprache Deutsch. Über Jahre hatten sich die Lehrer bemüht, die multikulturelle Schülerschaft pädagogisch zu erreichen. Doch nach eigener Auskunft war weniger die Herkunft der Schüler das Problem, sondern ihre soziale Lage und die mangelnden Perspektiven. Kein Wunder, dass der Krankenstand im Kollegium der damaligen Hauptschule laut Brief astronomische Zahlen erreicht hatte.

Immerhin einige Schüler hatten Freude an der Situation: „Es gilt als besondere Anerkennung im Kiez, wenn aus einer Schule möglichst viele negative Schlagzeilen in der Presse erscheinen“, heißt es im Brandbrief weiter. „Der Intensivtäter wird zum Vorbild.“ Dabei hätten es auch die Schüler selbst schwer, hieß es damals weiter: „In den meisten Familien sind unsere Schüler/Innen die einzigen, die morgens aufstehen. Wie sollen wir ihnen erklären, dass es trotzdem wichtig ist, in der Schule zu sein und einen Abschluss anzustreben?“, fragt das Kollegium.

Ehemalige Schüler sind jetzt an der Rütli-Schule Lehrkräfte

Außer einigen Lehrern und einer Sozialarbeiterin hat kaum jemand, der heute auf dem Campus tätig ist, diese Zustände noch erlebt. Einige Schüler von damals sind mittlerweile sogar als Lehrkräfte an die Schule zurückgekehrt. „Das ist sicherlich maßgeblich Frau Heckmann zu verdanken“, berichtet Kerstin Ruoff. Gemeint ist ihre Vorgängerin Cordula Heckmann. Die Schulleitung war zum Zeitpunkt des Brandbriefs schon länger verwaist.

Doch das laute Klagen hatte ein deutschlandweites Medienecho zur Folge und die Rütli-Schule rutschte auf der Agenda nach oben. Heckmann wurde 2007 zur Schulleiterin ernannt und hatte die Stelle bis vor knapp zwei Jahren inne. „Man hat nicht daran geglaubt, dass die Rütli-Schule zu reformieren ist. Das war eine große Chance für uns. Es konnte ja nur besser werden“, erinnert sie sich im Gespräch mit unserer Redaktion.

Nach dem Brandbrief wurde es allerdings erst einmal schlimmer. Der schlechte Ruf hatte sich zum Teufelskreis entwickelt: Kaum jemand wollte seine Kinder freiwillig auf die deutschlandweit bekannte Problemschule schicken. Die meisten Schüler wurden von Amts wegen zugeteilt. Das betraf häufig Kinder und Jugendliche, die ernste Probleme von zu Hause mitbrachten.

Die Abwärtsspirale drehte sich immer schneller: Überforderte Lehrer mussten sich krankschreiben lassen oder gingen gleich ganz. Der Unterricht wurde noch schlechter und fiel öfter aus. Die abgehängten Schüler fielen noch weiter zurück. Auch für die Absolventen der Rütli-Schule wurde das Leben nach dem bundesweiten Aufschrei erst einmal nicht einfacher: „Unsere Schüler wurden allesamt als gewaltbereite Bildungsversager abgestempelt“, erinnert sich Heckmann. Ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt habe das nicht erhöht.

Rütli-Schule ist heute Gemeinschaftsschule

„Auch deswegen bin ich kein Fan von solchen Brandbriefen“, sagt Heckmann heute. Doch das Beispiel hat Schule gemacht. Immer wieder haben Bildungseinrichtungen seitdem mit dramatischen Worten auf ihre Lage aufmerksam gemacht, was die Presse mit einer gehörigen Dosis Kulturpessimismus aufnimmt.

Der Schulhof des heutigen Rütli-Campus ist an diesem grauen Mittwoch im Jahr 18 nach dem Brandbrief weitgehend leer, weil gerade keine Pause ist. Ein Schüler sitzt in Jogginghose mit einer Flasche Cola und einer Bäckertüte vor dem Hauptgebäude. Er blickt auf die Kita und das Jugendzentrum „Manege“. Wenn man wollte, könnte man hier auf diesem Campus seine ganze Bildungskarriere bis zur Uni verbringen, inklusive Abitur und nachmittäglicher Hausaufgabenhilfe.

Heckmann war nach ihrer Einstellung jedenfalls fest entschlossen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. „Wir wollten kein Kind aufgeben“, fasst sie die Leitphilosophie ihrer Bemühungen heute zusammen. Sie und ihr Team nutzten die Gelegenheit für radikale Reformen: Längeres gemeinsames Lernen, eine Nachmittagsbetreuung vor Ort und vieles mehr. Im Jahr 2009 fusionierte die Rütli-Hauptschule mit einer Grund- und einer Realschule zu einer so genannten Gemeinschaftsschule. Heute arbeitet sie eng mit dem Bezirk Neukölln und verschiedenen Sozialeinrichtungen zusammen. Das Bildungsangebot auf dem Campus an der Rütlistraße reicht von Sprachkursen bis zur Berufswerkstatt.

Sicherheitsmann bewacht die ganze Zeit den Eingang

Doch es gibt noch immer und wieder Probleme. „Seit dem Angriff der Hamas gibt es immer wieder Streit um den Krieg im Nahen Osten“, sagt Schulleiterin Ruoff. Auch, weil in Neukölln eine der größten Palästinenser-Gemeinschaften in Deutschland lebt, und die Situation vielen Menschen im Stadtteil aus biografischen Gründen nahe geht. Auf dem Weg zum Bäcker seien etwa Demos mit Wasserwerfer-Einsatz in den vergangenen Monaten ein alltägliches Bild. Dementsprechend kontrovers wird die Lage auf dem Schulhof diskutiert.

Die Schule versucht normalerweise Ressentiments unter anderem mit einer jährlichen Reise nach Israel zu begegnen. Dies sei wegen des Krieges im Moment jedoch nicht möglich. Der pädagogische Notstand, der Anfang des Jahrtausends an der Berliner Rütli-Schule herrschte, war bundesweit keineswegs einzigartig. Was können Schulen, die in einer ähnlichen Lage waren oder sind, also vom Beispiel Rütli lernen? Zum einen, dass eine Kehrtwende Zeit braucht. „Man sagt, dass so eine Umkehr mindestens zehn Jahre dauert. Wir haben elf gebraucht“, schätzt Ex-Chefin Heckmann.

Und wie kann so etwas klappen? „Es fängt damit an, dass man die Missstände identifiziert und sie klar und offen anspricht. Dann muss man sich Verbündete suchen, um sie zu beheben“, fasst Ruoff zusammen. Als der Reporter den Campus verlässt, wacht der Sicherheitsmann noch immer über den Eingang. Es ist etwas lauter, weil mittlerweile die Pause begonnen hat. Er hat Zeit, sich mit einem freundlichen Gruß zu verabschieden. Denn wie meistens hat er gerade nicht allzu viel zu tun.