Am 27. Januar gedenkt Deutschland denjenigen, die im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden. Gidon Lev, geboren 1935, hat das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt – und sich das Erinnern zur Aufgabe gemacht. Olaf Neumann hat mit ihm gesprochen.
Holocaust-Gedenktag„Es gibt immer ein Morgen“ – ein Überlebender erzählt
Herr Lev, im Dezember 1941 wurden Sie, Ihre Eltern und Ihr Großvater von Karlsbad nach Theresienstadt deportiert. Ahnten Sie, was dort mit Ihnen geschehen würde?
1941 wurden mein Vater und mein Großvater von den Nazis nach Theresienstadt geschickt. Sie sollten das Lager mit aufbauen, den Stacheldraht, die Schlafplätze. Zwei Wochen später sind meine Mutter und ich dort angekommen, aber meinen Großvater habe ich nie wieder gesehen. Er war krank, kam in ein Krankenzimmer und starb dort eineinhalb Jahre später. Ich habe Dokumente, die das belegen. Vater war über drei Jahre in Theresienstadt, wo er in einer Mine arbeiten musste. Und zehn Tage vor dem Eintreffen der Roten Armee wurde er auf den Todesmarsch nach Auschwitz getrieben. Er ist unterwegs gestorben. Nur meine Mutter und ich haben überlebt.
Wussten Sie von den Vernichtungslagern der Nazis?
Die Leute in Theresienstadt wussten nichts von Treblinka, Buchenwald oder Mauthausen. Ich als kleines Kind sowieso nicht. Aber wir hatten alle große Angst, dass in unserem Essen etwas Schlechtes drin sein könnte. Alles, was die Nazis über das Lager Theresienstadt gesagt hatten, war gelogen.
Sie haben dort Hinrichtungen mit ansehen müssen. Was hat das mit Ihnen gemacht?
In den ersten Monaten hat die SS Postkarten ausgegeben. Da stand drauf: „Es ist alles in Ordnung, wir sind okay. Viele Grüße, Tante Emma". Das war eine Lüge. Es gab junge Männer, die versuchten, eigene Postkarten zu verschicken mit Nachrichten wie „Wir essen schlecht und arbeiten schwer". Die Nazis fanden das heraus und haben 16 Leute aus unserer Kaserne schwer bestraft. Eines Tages hörten wir im Gebäude Schreie. Die SS folterte im Keller Menschen mit glühenden Zigaretten, damit sie erzählten, wer die Postkarten und Briefe hinausgeschmuggelt hat. Und dann haben sie 16 Leute gehängt. Die Frauen und Kinder mussten das mit ansehen. Das werde auch mit ihnen passieren, wenn sie versuchten, illegale Briefe zu verschicken.
Und das alles haben Sie mit ansehen müssen?
Als man die Ermordeten losmachte, drehte meine Mutter mir den Kopf zur Seite. In Theresienstadt gab es zwar keine Gaskammern oder Erschießungen, aber dort wartete auf uns eigentlich nur der Tod. Fast 35000 jüdische Menschen sind dort umgekommen. Sie starben an Unterernährung, an Krankheiten, an Überarbeitung oder an Verzweiflung. Es konnte passieren, dass man heute noch arbeitete und am nächsten Tag die Nachricht bekam, sich am Bahnhof einzufinden. Warum? Wer weiß. Die SS sagte, sie wolle 155 junge Leute abtransportieren. Die Juden mussten selbst entscheiden, wer von ihnen gehen sollte. Das war schrecklich.
Wie lief die Auswahl ab?
Ein Beispiel dafür: Meine Mutter hatte einen Abszess über der Brust. Der Doktor im Krankenzimmer war unser Hausarzt und mein Geburtshelfer aus Karlsbad. Die SS sagte, er solle am nächsten Morgen 155 seiner Patienten unten an den Bahnhof bringen. Mutter stand zweimal auf dieser Liste, und Dr. Feldmann hat ihren Namen jeweils wieder gestrichen. Aber das bedeutete, dass jemand anderes hat an ihre Stelle treten müssen. Oder sie hätten den Doktor selbst genommen. Die Angst herrschte in Theresienstadt die ganze Zeit. Alles war Lüge.
Wie ist man im Lager mit Kindern verfahren?
Männer waren in einer eigenen Kaserne untergebracht. Und wer älter als zehn war, wohnte in einer Gruppe und nicht mit den Eltern zusammen. Die Kinder hatten meistens jemanden, der mit ihnen spielte oder sie unterrichtete. Das war nicht legal, aber die Nazis wussten nichts davon. Sie haben auch Kinder auf die Transporte geschickt, auch darüber mussten die Juden selbst entscheiden. Eine schreckliche Sache. Ich möchte daran nicht mehr denken. Ich war aber nicht Teil dieser Gruppe, weil ich zu klein war.
Wie sah ihr Tagesablauf aus?
Meine Mutter ist um sechs Uhr früh in den Lagerhof gegangen, wo die Frauen zu schweren körperlichen Arbeiten eingeteilt wurden. Ich habe sie den ganzen Tag nicht gesehen. Abends um acht war sie so müde, dass sie sofort nach der Suppe schlafen ging. Ich habe in der Zeit versucht, ein Stückchen Brot oder einen halben Apfel zu finden. Manchmal stahl ich sechs, sieben Äpfel von einem Lastwagen. Einmal haben wir Kinder Fässer mit Marmelade entdeckt, so hatten wir auch mal etwas Süßes auf dem Stückchen Brot. Auf diese Weise habe ich überlebt.
Zeitsprung: Im Norden Israels trafen Sie 1985 auf eine Gruppe von Schülern aus dem Ruhrgebiet. War das Ihre erste Begegnung mit Deutschen seit 1945?
Ja. Nof HaGalil ist die Oberstadt von Nazareth, wo die meisten israelischen Araber leben. Sie ist auch Partnerstadt von Leverkusen. Eine Delegation von Schülern und Lehrern war für zehn Tage zu uns gekommen, und der Bürgermeister wusste, dass ich deutsch spreche. Also habe ich beim Dolmetschen geholfen. Am nächsten Tag wurde ich von dem Lehrer gefragt, ob ich als Holocaustüberlebender vor seinen Schülern sprechen wolle. Ich dachte, warum nicht. Es war das erste Mal und sehr emotional, nicht nur für mich, sondern auch für die Jugendlichen, die mich anschließend in den Arm genommen haben. Das gleiche habe ich dann auch in Schulen in Nazareth getan.
Sie brauchten nach Ihrer Befreiung aus dem KZ mehr als 40 Jahre, um Ihre Geschichte erzählen zu können. War es erleichternd, dass Sie das ausgerechnet vor Jugendlichen aus Deutschland taten?
Ja, das kann man sagen. Ich hatte eine große Familie, mein Leben war auf die Gegenwart und die Zukunft konzentriert, aber das hat mich zurück gebracht. Nachdem ich zu diesen Jugendlichen aus Leverkusen gesprochen hatte, fand ich es gar nicht so schlecht, einmal zurückzuschauen auf alles, was mir passiert war. Ich fragte mich, was kann ich tun, um die Welt besser zu machen.
In Ihrem Buch steht der bemerkenswerte Satz: „Ja, es gibt ein Morgen!" Ist das bis heute ein Leitsatz für Ihr Leben?
Lev: Ja, so lange wir leben, gibt es noch ein Morgen. Hoffen ist Leben. Wir sind nur ein winziger Teil auf dieser Welt, aber wir können sie etwas besser machen. Und zwar heute und nicht erst in einem Jahr.
Sie sind der erste Holocaustüberlebende, der bei einem offiziellen diplomatischen Anlass in den Vereinigten Arabischen Emiraten gesprochen hat. Wie wurde Ihre Rede aufgenommen?
Es war sehr bewegend und sehr speziell aus vielen Gründen. Ich, ein israelischer Jude, spreche in einem arabischen Land über den Holocaust. Die meisten Araber wissen nichts darüber. Und da kam der kleine Gidon und erzählte ihnen, was ihm als Kind passiert war. In dem Auditorium waren vielleicht 200 Männer und Frauen, darunter auch Botschafter. Weil es den Holocaust gab, verdienen wir unser eigenes Land und sollten es auch haben. Und wir leben zusammen mit Arabern. Ich habe arabische Nachbarn. Wir können und müssen zusammen leben. Das ist unsere Zukunft.
Wie oft erleben Sie heute im Alltag Begegnungen zwischen Israelis und Palästinensern, die Hoffnung geben?
Die Zeit seit dem 7. Oktober ist schrecklich für uns alle, Juden und Palästinenser, Muslime und Christen. Wir müssen es in Zukunft anders machen. Und wir können das auch! Ich bin nicht der einzige, der so denkt. Viele tausend andere glauben das auch. Natürlich gibt es auch welche, die Nein sagen, aber das ist nicht neu. Wir müssen etwas dafür tun, dass Israelis und Araber zusammen leben können. Wir müssen uns gegenseitig als Menschen sehen. Sie wirken nicht, als würden Sie Ihren Optimismus jemals verlieren.
Wenn ich nicht hoffnungsvoll wäre, wäre ich kein Optimist. Ich weiß, dass es besser werden kann. Ich habe das selbst erlebt. Ich hatte Krebs, ein transitionales Zellkarzinom in der Blase. Nach sieben Jahren sagte mein Arzt zu mir: "Mein lieber Gidon, dein Krebs ist gewachsen. Ich könnte dich operieren, aber du sollst den besten Arzt überhaupt haben. Ich gebe dir die Namen von zwei Spezialisten in Haifa. Such dir einen aus und lass dich von ihm operieren!“ Und hier bin ich 14 Jahre später. Mit neuen Sanitäranlagen.
Letzte Frage: Was hat die Menschheit aus dem Holocaust wirklich gelernt?
Ich weiß es nicht. Ich hoffe, die Menschheit hat daraus etwas gelernt. Vielleicht braucht es dafür sehr viel Zeit. Ich denke, der Holocaust, wie er war, wird nie wieder passieren. Das war etwas sehr Spezielles, aber es gab noch andere, kleinere Holocausts, die weniger bekannt sind. Zum Beispiel in Ruanda. Wir müssen so viel wie möglich aufklären. Meine Lebensgefährtin Julie Gray ist sehr gut darin. Ohne sie wäre mein Buch nicht erschienen. Wir wollen die Welt zu einem besseren Ort machen. Let’s make things better!
Gidon Lev wurde 1935 in der Tschechoslowakei geboren. Mit sechs Jahren kam er ins Konzentrationslager Theresienstadt, das er überlebt hat. Mit seiner Mutter, der einzigen weiteren Überlebenden seiner Familie, emigrierte er nach Brooklyn und später nach Toronto. 1959 zog er nach Israel, um sich ein neues, freies Leben aufzubauen. Gidon Lev war zwei Mal verheiratet, hat sechs Kinder, 15 Enkel und zwei Großenkelinnen. Mit seiner Lebensgefährtin Julie Gray lebt er in der Nähe von Tel Aviv.
Gidon Lev mit Julie Gray: Let’s make things better! Ein Holocaust-Überlebender über die Kraft des Positiven. (Mosaik Verlag. 224 Seiten. € 22,00 [D] € 22,70 [A] CHF 30,50)