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Kreml-GegnerWarum die Hoffnung auf ein freies Russland lebt

Lesezeit 6 Minuten
Der russische Kremlgegner Alexej Nawalny bei einer Anhörung im Jahr 2021.

Oppositionelle wie Alexej Nawalny setzten auf ein Ende der Regierung Waldimir Putins. Mittlerweile sind die meisten in Haft oder im Exil.

Wladimir Putin hat die demokratische Opposition zerschlagen. Seine wichtigsten Gegner sitzen im Gefängnis. Wer ins Exil geflohen ist, hat kaum Einfluss in der Heimat.

Schneebälle prasseln auf die schweren Helme der Sonderpolizisten. Die berüchtigten Omon-Kämpfer greifen zu ihren Schlagstöcken. Doch dann ziehen sie sich zurück. Auf dem Moskauer Puschkin-Platz bricht Jubel aus. Die meist der jungen Menschen hier ahnen nicht, dass es für lange Zeit der letzte kleine Triumph sein wird. Sie glauben an diesem Samstag im Januar 2021 noch, dass sie etwas bewirken können. Dass Alexei Nawalny, gegen dessen Verhaftung sie gerade protestieren, zur Symbolfigur eines russischen Frühlings werden kann. Mitten im Winter gehen im ganzen Land Zehntausende auf die Straße, in Sibirien bei Temperaturen von minus 40 Grad. Doch die wahre Eiszeit in Russland beginnt an diesem Tag erst.

Ein Moskauer Gericht verurteilt Nawalny im Eilverfahren. Es schickt den wichtigsten Gegner von Präsident Wladimir Putin für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis, weil er sich den Behörden entzogen haben soll. Zweieinhalb Jahre! Davon kann Wladimir Kara-Mursa nur träumen. Im April 2023 greift die kremltreue Justiz zu ganz anderen Anklagen und Strafen. Kara-Mursa muss für 25 Jahre ins Straflager. Wegen Hochverrats. Der Oppositionspolitiker soll Falschinformationen über die Armee verbreitet haben, die in der Ukraine Krieg führt. Seit der Invasion ist Putins Russland noch einmal zu einem anderen Land geworden. Viele Kremlkritiker sprechen von „Neostalinismus“.

Das mag angesichts von Millionen Toten im sowjetischen Gulag übertrieben sein. Aber die Fälle von Nawalny und Kara-Mursa belegen doch eine dramatische Eskalation. Der Polizeistaat und die politische Justiz schlagen immer gnadenloser zu. Bei Nawalny haben die Gerichte längst nachgelegt. Aktuell beläuft sich sein Strafmaß auf neun Jahre, aber immer neue Verfahren kommen hinzu. Haft bis 2051 ist möglich. Damit würde er Kara-Mursa wieder überholen. Allerdings zweifeln Vertraute der beiden Männer, dass sie die kommenden Jahre durchstehen können. Obwohl Kara-Mursa erst 41 Jahre alt ist, Nawalny 46. Aber beide haben Giftanschläge überlebt, mutmaßlich verübt vom Geheimdienst FSB. Sie leiden schwer unter den Folgen, sind abgemagert und wirken hinfällig.

„Ein russischer Politiker gehört nach Russland“

Dennoch haben sich beide bewusst in die Fänge „dieses mörderischen Regimes“ begeben, von dem Kara-Mursa spricht. Ein russischer Politiker gehöre nach Russland, sagt er, und so sieht es auch Nawalny. Die beiden stehen damit für die eine „Schule“ in der demokratischen Opposition. Sie setzen auf das, was man den Mandela-Effekt nennen könnte. Nelson Mandela, der legendäre Kämpfer gegen die Apartheid in Südafrika, saß 27 Jahre in Haft, bevor er freikam und zum ersten schwarzen Präsidenten des Landes gewählt wurde. So lange soll die Eiszeit in Russland nicht dauern: „Wir wissen, dass solche Regime schnell enden können“, sagt Kara-Mursa. Die Gewalt zeuge in erster Linie von Angst und sei ein Zeichen der Schwäche.

Hinter diesen Überlegungen steht die Idee eines Martyriums. Folter erdulden, um die Achtung der Menschen zu gewinnen. Um Russland nach Putins Niedergang in eine lichte Zukunft führen zu können. Das ist der Plan, dessen Verwirklichung aber von äußeren Faktoren abhängt. Von einer Niederlage im Krieg zum Beispiel, vom Crash der Wirtschaft oder von Machtkämpfen im Kreml. All das ist möglich, aber ist es auch wahrscheinlich? Sicher scheint derzeit nur, dass sich die Menschen in Russland so bald nicht massenhaft gegen die Putin-Herrschaft erheben werden. Umfragen zeigen eine Zustimmung zum Regime von mehr als 70 Prozent. Die Werte mögen nicht sehr zuverlässig sein. Aber Fachleute zweifeln nicht an dem stabilen Trend.

Entscheidend ist dabei die Angst. „Um die existenzielle Angst dreht sich in Russland derzeit alles“, erklärt der Moskauer Soziologe Grigori Judin. Da sind die prügelnden Omon-Polizisten und die drakonisch verschärften Gesetze, die in Schauprozessen wie im Fall Kara-Mursa exekutiert werden. Nicht zuletzt fehlt in Russland auch weiter der Glaube, dass mehr Freiheit ein besseres Leben bewirken kann. Die Erinnerungen an die finsteren 90er Jahre sind noch immer lebendig, als unter dem „demokratischen“ Präsidenten Boris Jelzin Mafia- und Oligarchenkämpfe tobten. Die Furcht vor einem Rückfall in die Anarchie können auch Nawalny und Kara-Mursa niemandem nehmen.

Und noch weniger sind dazu jene Putin-Gegner in der Lage, die vom westlichen Exil aus auf den Sturz des Regimes hinarbeiten. Sie bilden die andere Schule der liberalen Opposition, die ein Martyrium in Haft für wenig aussichtsreich hält. Prominente Figuren gehören dazu. Der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow etwa, der sich früh der Anti-Putin-Opposition anschloss. Heute lebt er in Kroatien, weil ihm in Russland das Straflager droht. Oder die Germanistin Irina Scherbakowa, die 1989 Mitbegründerin von Memorial war. Die Menschenrechtsorganisation erhielt 2022 den Friedensnobelpreis. Scherbakowa lebt mit ihren 74 Jahren in Deutschland, von wo aus sie den „Rückfall in den Stalinismus mit Zorn“ beobachtet. Dennoch bleibe Russland ihre Heimat.

Zu nah liegt der Vorwurf des Verrats

Das sagt auch Kasparow, der überzeugt ist: „Ich werde zurückkehren.“ Nur wann und unter welchen Bedingungen? Seine größte Hoffnung sei ein Sieg der Ukraine im Krieg, erklärt Kasparow. „Dafür kämpfen wir.“ Zweifel sind allerdings erlaubt, dass Exil-Westler, die auf eine Niederlage Russlands hinarbeiten, in ihrer patriotisch gestimmten Heimat Gehör finden. Zu nah liegt der Vorwurf des Verrats. Darunter leiden auch jene kremlkritischen Medien, die nach der Ukraine-Invasion zunächst verstummten und ihre Arbeit später im Exil wieder aufnahmen, oft in Georgien oder Litauen. Der TV-Sender „Doschd“ gehört dazu oder die „Nowaja Gazeta“ von Dmitri Muratow, der 2021 den Friedensnobelpreis erhielt.

Um einem Verbot zuvorzukommen, stellte die einst von Michail Gorbatschow unterstützte Zeitung ihre Arbeit im März 2022 ein. Gut die Hälfte der Redakteure ging ins Exil, wo sie inzwischen die „Nowaja Gazeta Europe“ herausgeben. Auch dort droht Gewalt. Sicher sei im Ausland niemand vor Putins langem Arm, sagt Chefredakteur Kirill Martynow. Aber: „Als Menschen haben wir keine Wahl, solange wir den Krieg nicht akzeptieren. Und das werden wir niemals tun.“ In diesem Punkt sind sich die Exil-Oppositionellen einig mit den „Märtyrern“ Kara-Mursa und Nawalny.

Auch deren Mitstreiter arbeiten im Übrigen vom Exil aus. Leonid Wolkow ist zum wichtigsten Aktivposten des „Teams Nawalny“ im Westen geworden. Er lebt in Litauen, twittert viel und hat in seinem Buch „Putinland“ mit dem Regime abgerechnet. Bei Youtube hat das Nawalny-Team 6,35 Millionen Abonnenten. Es sei ein Irrtum, dass die Menschen in Russland nicht über den Krieg Bescheid wüssten, sagt Wolkow. Der füllige 42-Jährige mit dem rötlichen Vollbart, der wie ein Mensch gewordener russische Bär wirkt, ist Realist: „Putinland ist ein totalitärer Staat. Wer dort gegen den Krieg protestiert, riskiert jahrelange Haft.“ Er bleibe aber optimistisch. Schließlich hätten die Menschen in der Sowjetunion die Diktatur auch überwunden. Nur wann die Eiszeit einem neuen Tauwetter weichen wird, sei offen.