Pro und ContraHärtere Strafen für sexuellen Missbrauch von Kindern?
- Die Missbrauchsfälle von Münster, Bergisch Gladbach oder Lügde haben der Debatte über eine Verschärfung des Strafrechts Nahrung gegeben.
- NRW-Innenminister Herbert Reul stellte die Taten auf eine Stufe mit Mord.
- Muss es härtere Strafen für sexuellen Missbrauch von Kindern geben?
Pro: „Die Täter gehen strategisch vor, wägen Kosten und Nutzen ab“ (Julia von Weiler)
Sexuelle Gewalt an Kindern ist ein Verbrechen. Das kann jeder nachempfinden, nur das Gesetz tut es bislang nicht. Es stuft „einfachen“ Missbrauch immer noch als ein Vergehen ein. Wenn der Gesetzgeber es nun zu einem Verbrechen erklärt, dann sendet er zwei sehr wichtige Signale aus. Erstens zeigt er den Opfern dieser Taten ganz klar: Was dir angetan wurde, ist keine Bagatelle. Der Staat nimmt das sehr ernst, er erkennt deinen Schmerz an!
Zweitens sagt er den Tätern und Täterinnen ebenso klar: Du hast ein Verbrechen begangen, das bestrafen wir. Ein Klaps auf Bewährung – das reicht nicht mehr!
Wir sollten es Kritikern ruhig, aber mit aller Klarheit sagen: Niemand ruft nach der Todesstrafe, niemand fordert lebenslang. Was wir fordern, ist Missbrauch als das zu sehen, was er ist – ein Verbrechen. Das Gesetz unterteilt bislang in einfachen und schweren Missbrauch. Das ist zynisch. Auch „einfacher“ Missbrauch macht Kinder zum Objekt, nimmt ihnen Würde und Selbstbestimmung.
Das Argument, eine Verschärfung des Strafrechts wirke doch gar nicht abschreckend und deshalb bringe das nichts, kann ich nicht gelten lassen. Täter und Täterinnen sind in aller Regel Meister der Manipulation. Sie gehen strategisch vor, wägen Kosten und Nutzen ab. Meine These ist: Es ist genau umgekehrt. Weil Missbrauch bisher leichter genommen wird als ein Ladendiebstahl, fühlen sie sich sicher und im Recht.
Wir müssen Schuld richtig zuerkennen. Das Leben von Tätern oder Täterinnen verändert sich nicht, weil das Opfer etwas falsch gemacht hätte. Sondern weil er oder sie einem Kind sexuelle Gewalt antun. Belassen wir doch die Verantwortung bitte da, wo sie hingehört – beim Täter oder der Täterin. Dann müssen sie sich wirklich dafür verantworten, dass ihre Tat das Leben der Opfer unwiderruflich und für immer verändert hat. Für ein missbrauchtes Kind wird nichts mehr so sein, wie es hätte sein können. Das ist das Verbrechen.
Klar ist, die Einstufung von Missbrauch als Verbrechen allein reicht nicht aus. Wir können nicht Gesetze verschärfen, ohne die Strafverfolgung, Staatsanwaltschaften und Gerichte auch personell in die Lage zu versetzen, damit umzugehen. Alle in diesem Bereich müssen sich zum Thema fortbilden, auch Richter und Richterinnen. Sie müssen dazu verpflichtet werden, sich zum Thema Gewalt, sexuelle Gewalt und Trauma fortzubilden, denn Täter und Täterinnen manipulieren auch Gerichte. Es wird Zeit, dass Richter und Richterinnen diese Strategien endlich studieren, um so in einem Verfahren echte Einsicht und Reue von strategisch platzierter zu unterscheiden. Da gibt es große weiße Flecken. Das darf bei der immensen Verantwortung, die diese Menschen tragen, nicht sein.
Es gibt viel zu tun auf allen Ebenen. Wir müssen die Prävention verbessern, genauer zuhören und hinschauen. Und wir müssen endlich besser werden in der Intervention. Das bedeutet: Die Veränderung des Strafrechts allein reicht nicht aus. Aber sie ist ein wichtiges Signal.
Contra: „Das Leid des Opfers ist einer von mehreren relevanten Gesichtspunkten“ (Theresia Höynck)
Sexueller Kindesmissbrauch ist derzeit mit einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren belegt, die einschlägigen Paragrafen enthalten verschiedene Varianten höherer Mindeststrafen für besonders schwere Fälle. Sexueller Kindesmissbrauch ist ein schlimmes Delikt, aber die Bandbreite dessen, was rechtlich als sexueller Kindesmissbrauch zählt, ist sehr groß: Sie reicht von Fällen wie Lügde oder Münster bis zu einem einmaligen, sexuell motivierten Anfassen der bekleideten Brust. Auch das ist selbstverständlich inakzeptabel, wiegt aber eben im Unrechtsgehalt deutlich weniger schwer.
Die Signalwirkung des schlimmen Delikts wird durch den Strafrahmen von bis zu zehn Jahren hinreichend gewährleistet. Niemand Ernstzunehmendes hält mehr sexuellen Kindesmissbrauch für eine Bagatelle, auch wenn die Tat durch die Mindeststrafe von sechs Monaten als „Vergehen“ gilt. Die begriffliche Einteilung von Straftaten in „Verbrechen“ (Mindeststrafe ein Jahr) und „Vergehen“ (Mindeststrafe geringer), ist eine rein formal-pragmatische. Bei Regelungen etwa im Strafprozessrecht, die an die Mindeststrafe anknüpfen, müsste man sonst statt „Vergehen“ immer schreiben: „rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bedroht sind“.
Wie bei allen Straftaten, ist auch bei sexuellem Missbrauch die individuelle Schuld des Täters der Maßstab für die Strafe innerhalb des einschlägigen Strafrahmens. Beachtet werden hier etwa Beweggründe, Gesinnung, Ausführungsweise und die Folgen der Tat. Das Leid des Opfers wird also in zweifacher Weise berücksichtigt: durch die Strafbarkeit an sich und im Rahmen der Strafzumessung. Es ist dabei nur einer von mehreren relevanten Gesichtspunkten. Was auf den ersten Blick problematisch erscheinen kann, ist auf den zweiten Blick auch im Interesse von Opfern: Die Strafe darf nicht allein davon abhängen, ob das Opfer die Tat gut oder schlecht bewältigt oder ob es besonders verzeihend oder rachebedürftig ist.
Breite Strafrahmen geben den Gerichten einen großen Spielraum für Einzelfallgerechtigkeit. Es gibt keine Hinweise darauf, dass diese Spielräume nicht verantwortungsvoll genutzt und die Opfer in ihrem Leid nicht hinreichend berücksichtigt würden. Eine Mindeststrafe ist eine harte Grenze, kein Gericht kann sie unterschreiten, sei der Einzelfall auch noch so klar einer mit besonders niedrigem Schuldgehalt.
Eine Verschärfung des Gesetzes ist als Signal nicht nötig. Auch ein praktischer Nutzen wäre nicht zu erwarten. Die Höhe der Strafandrohung hat in aller Regel keinen präventiven Effekt. Abschreckende Wirkung geht von der Entdeckungswahrscheinlichkeit aus. Bemühungen müssen sich also darauf richten, Taten aufzudecken. Dafür bedarf es angemessen ausgestatteter Strafverfolgungsbehörden, aber auch einer sensibilisierten Öffentlichkeit, die Signale von Kindern wahrnimmt. Es gibt viel zu tun bei der Verhinderung von sexuellem Kindesmissbrauch. Die Verschärfung des Strafrechts gehört nicht dazu. Im Gegenteil, die Debatte lenkt ab von Punkten, die schon lange bekannt, aber immer noch nicht hinreichend umgesetzt sind.