AboAbonnieren

Folgen des BrexitArmut in Großbritannien wächst dramatisch

Lesezeit 4 Minuten
Ein Passant in Grimsby

Ein Passant in Grimsby. Hier stimmten mehr als 70 Prozent der Bewohner für den Brexit - und erleben nun einen wirtschaftlichen Einbruch. A

22 Prozent der Bevölkerung sind von Armut betroffen, die Brexit-Folgen verschlimmern die Inflation. Die Regierung Sunak gerät zunehmend unter Druck.

Toni besucht die Tafel im Stadtteil Stoke Newington im Nordosten Londons an diesem regnerischen Julitag mit zweien ihrer drei Kinder. Mit dabei hat sie einen Einkaufstrolley. Darin verstaut sie die Waren der „Food Bank“. Es sind vorwiegend haltbare Lebensmittel: Reis, Nudeln, Gemüse und Fleisch in Konservendosen. „Es ist nicht schön, um Hilfe bitten zu müssen“, sagt die 42-Jährige mit leiser Stimme und gesenktem Blick. Aber es bleibe ihr nichts anderes übrig.

Wie ihr geht es immer mehr Briten. Laut der Wohltätigkeitsorganisation Trussell Trust, zu der die Tafel in Stoke Newington gehört, leben im Vereinigten Königreich schätzungsweise 14,5 Millionen Menschen in Armut. Das entspricht 22 Prozent der Bevölkerung. Der Grund ist auf den ersten Blick derselbe wie überall in Europa: Die gestiegenen Lebenshaltungskosten und Energiepreise haben dazu geführt, dass den Bürgern das Geld ausgeht.

Leitzinserhöhung soll Spirale stoppen

Erschwerend hinzu kommt aber die schlechtere Ausgangslage auf der Insel. Die Inflationsrate liegt durch die Folgen des Brexits immer noch bei gut acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Um die Preisspirale zu stoppen, hat die Bank of England die Leitzinsen erneut erhöht. Laut einer Studie der Denkfabrik Resolution Foundation hat dies zum größten Rückgang des Haushaltsvermögens in Großbritannien seit dem Zweiten Weltkrieg geführt.

Am härtesten trifft das jene, die ohnehin wenig zur Verfügung haben. „Die staatlichen Leistungen reichen mittlerweile selbst für Erwerbstätige nicht mehr aus“, sagt Isabel Taylor von der Joseph Rountree Foundation (JRF) unserer Redaktion. „Weil die Zuschüsse nicht mit der Inflation Schritt halten, ist der reale Wert der Sozialleistungen immer weiter gesunken.“ Großbritannien ist im Vergleich mit anderen einkommensstarken Ländern weniger großzügig, seit die Sozialleistungen unter der früheren Premierministerin Margaret Thatcher drastisch gekürzt wurden.

Kinderarmut in London

Das spürt auch die 42-jährige Toni. Sie zählt die Rechnungen auf, die sie begleichen muss: Miete, Strom, Wasser, das Mobiltelefon. Die Liste ist lang. „Danach habe ich oft nur noch 86 Pfund für den Rest des Monats übrig“, sagt sie. Das sind umgerechnet knapp 100 Euro. Um zu sparen, habe sie mittlerweile viele Strategien. Sie halbiere auch mal Waschmittel-Tabs. Bislang habe sie verhindern können, dass ihre Kinder zu wenig zu essen haben. Sie selbst habe jedoch schon gelegentlich hungern müssen, erzählt die alleinerziehende Mutter.

Isabel Taylor zitiert dazu eine Studie der Loughborough University. Demnach lebt etwa im Londoner Bezirk Hackney fast die Hälfte (43,4 Prozent) der Kinder – nach Abzug der hohen Wohnkosten der Metropole – in Armut. Taylor begründet dies auch mit den Regeln der als „Universal Credit“ bekannten Sozialhilfe. Demnach erhalten Familien nur bis zum zweiten Kind mehr Geld; vergrößert sich diese weiter, bleibt der Betrag gleich.

„Kinderarmut ist die hässliche Seite Londons“, sagt Alison Garnham von der Organisation Child Poverty Action Group (CPAG). Ein Drittel der Kinder bekomme nicht das, was sie zum Gedeihen benötigen – „und diese Zahl wird noch steigen, wenn die Regierung weiterhin die Augen vor der Tatsache verschließt, dass Familien nicht genug zum Leben haben“.

Viele Obdachlose in England

Zudem sind in England mindestens 271000 Menschen obdachlos. Die freiwilligen Helfer in Stoke Newington wissen um die Lage. „Ich war selbst ohne Wohnsitz und weiß deshalb, dass es jeden treffen kann“, sagt die 55-jährige Esther Nelson, die im „Second Chance Cafe“ ehrenamtlich tätig ist. Dort erhalten Gäste umsonst oder gegen eine Spende eine warme Mahlzeit.

Die Zahl derer, die in provisorischen Unterkünften leben, ist laut der Organisation Shelter binnen zehn Jahren um 74 Prozent gestiegen. London schneidet am schlechtesten ab: Einer von 58 Menschen ist obdachlos. „Weil die Mieten seit der Pandemie drastisch gestiegen sind, ist es für Wohngeldbezieher fast unmöglich geworden, eine bezahlbare Unterkunft zu finden“, so Taylor. Sozialwohnungen sind Mangelware, die Wartelisten lang.

„Viele Menschen essen bei uns ihre einzige warme Mahlzeit der Woche“, sagt der 30-jährige Max Mucenic, der das „Second Chance Cafe“ leitet. An einem Tag werden hier bis zu 100 Mahlzeiten ausgegeben, vorwiegend Suppen, hergestellt aus gespendetem Gemüse. Auch Toni denkt darüber nach, bald dort essen zu gehen. An diesem Julitag macht sie sich jedoch direkt auf den Weg nach Hause, um aus den Lebensmitteln der Tafel ein Abendessen für sich und ihre Kinder zu kochen.