In Spanien trafen sich am Donnerstag mehr als 40 Staats- und Regierungschefs aus ganz Europa. Doch statt einer geschlossenen Front gegen Putin zeigten sich mehr Risse denn je.
EU-Gipfel in GranadaDie Einigkeit in Europa bröckelt
Selbst die Prachtkulisse der Alhambra, dieser einmaligen, auf dem Albayzin-Hügel der Sierra Nevada thronenden Festung, konnte nicht darüber hinwegtäuschen: Der Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft im spanischen Granada war schon gescheitert, bevor die ersten der 45 Staats- und Regierungschefs am gestrigen Donnerstag über den blauen Teppich schritten. Da half es auch nicht viel, dass Ministerpräsident und Gastgeber Pedro Sánchez daran erinnerte, dass Granada „für den Respekt gegenüber anderen Kulturen“ wie auch „für die Zivilisation“ stehe.
Als sich die Spitzenpolitiker im Schatten der Zeitzeugin europäischer Geschichte beim traditionellen Familienfoto mit guter Miene verewigen ließen, konnten sie trotzdem die entscheidende Frage des Tages nicht weglächeln: Welchen Sinn hatte das Treffen der EPG überhaupt noch? Entscheidende Akteure blieben der symbolträchtigen Zusammenkunft fern, und auch die Anwesenden schienen die akuten Krisen am liebsten ignorieren zu wollen. Antworten gab es jedenfalls nicht. Die sonst übliche Pressekonferenz wurde ohne Angabe von Gründen abgesagt.
Die Idee für den neuen Club geht auf Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zurück. Mit der Gründung der EPG wollten die Europäer nach Russlands Angriff auf die Ukraine ein Signal der Geschlossenheit an Präsident Wladimir Putin senden. Die erweiterte Runde sollte Gesprächskanäle eröffnen und Konfliktparteien zusammenbringen. Bei den ersten beiden Treffen – die Premiere fand vergangenen Herbst im tschechischen Prag, die andere Begegnung im Mai im moldawischen Chisinau statt – hat das vordergründig funktioniert. Mit wenigen Ausnahmen hatten sich die Europäer mit überraschender Ge- und Entschlossenheit gegen Russland gestellt.
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Doch nach bald zwei Jahren Krieg weist das Bollwerk immer mehr Risse auf, die Einigkeit scheint zu bröckeln. Und so fragten sich Beobachter in Granada, ob das politische Speed-Dating zumindest zur Selbstvergewisserung der Europäer dienen würde. „Die größte Herausforderung für uns besteht darin, Einigkeit in Europa zu wahren“, sagte denn auch ein äußerst nachdenklich wirkender ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj bei seiner Ankunft.
Wie ernst meinen es die Europäer mit ihren Treueschwüren gegenüber Kiew, wenn nicht mehr nur Dauerstörenfried Ungarn ausschert, sondern auch der Sieger der Wahlen in der Slowakei, Robert Fico, die bei der Bevölkerung unbeliebten Waffen-Hilfen beenden will? Überschattet wurden die Beratungen zudem vom internen Haushaltsstreit in den USA, der die weitere finanzielle Unterstützung gefährdet.
„Europa kann die USA ganz sicher nicht ersetzen“
Fraglich ist, ob Vorschläge von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Chefdiplomat Josep Borrell verwirklicht werden können, für die Ukraine im Zeitraum bis Ende 2027 zusätzliche 70 Milliarden Euro bereitzustellen. 20 Milliarden Euro davon sollen für die Lieferung von Waffen und militärischer Ausrüstungen dienen, die anderen 50 Milliarden Euro vor allem zur Stützung des ukrainischen Staatshaushalts und den Wiederaufbau. Borrell warnte am Donnerstag, dass selbst dieses Geld einen Wegfall von US-Finanzierung nicht kompensieren dürfte. „Europa kann die USA ganz sicher nicht ersetzen“, antwortete er auf die Frage eines Journalisten.
Immerhin, das galt schon als Erfolg, war Selenskyj in Granada erschienen – anders als Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev. Der sagte seinen Besuch in Spanien kurzfristig ab wegen der seiner Meinung nach vorherrschenden „anti-aserbaidschanischen Stimmung“. Die Kaukasusrepublik ließ folglich eine von der EU vorbereitete Vermittlungsinitiative mit Armenien zur Konfliktregion Berg-Karabach platzen.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, ein wichtiger Verbündeter von Aliyev, kam auch nicht, er schob eine Erkältung vor. Während viele Seiten die EPG stets als Plattform gepriesen hatten, wo verbündete und verfeindete Länder zusammenkommen, um sich auszutauschen ohne den Druck, Beschlüsse zu fassen, ging dieses Treffen als Gipfel der enttäuschten Hoffnungen in die Geschichtsbücher ein.
Denn die Atmosphäre zwischen zwei anderen Konfliktparteien durfte ebenfalls als vergiftet oder bestenfalls äußerst kompliziert beschrieben werden. Die Präsidentin des Kosovo, Vjosa Osmani, reiste zwar nach Granada, verkündete aber gleich zu Beginn, dass es keinen Grund gebe, mit Serbien zu reden, bevor Sanktionen gegen Präsident Aleksander Vucic verhängt worden seien. Auch hier erwarteten Beobachter keine Entspannung. Auslöser der eskalierenden Spannungen war ein Überfall serbischer Paramilitärs auf kosovarische Polizisten. Belgrad hat zudem serbische Truppen rund um das Kosovo, das sich 2008 nach einem blutigen Krieg für unabhängig erklärt hatte, aufmarschieren lassen.
Vermutlich bewerteten es die Teilnehmer als Glücksfall, dass immerhin noch Schwerpunktthemen auf der Agenda standen, bei denen man sich einigermaßen einig war. Dazu gehörten Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sowie Energie und Klimaschutz. Wobei nicht überliefert ist, ob die Staatenlenker bei ihren Gesprächen über Energie jenen Aspekt erwähnten, der sich speziell für die EU zu einem handfesten Problem entwickeln könnte: Die Partner sind angewiesen auf umfangreiche Gaslieferungen aus Aserbaidschan, die einen Großteil der russischen Lieferungen ersetzen. Umso zurückhaltender kommentierte die Gemeinschaft die Aggression der Aserbaidschaner.
Und Olaf Scholz? Der Bundeskanzler wird auch an diesem Freitag noch in Granada sein. Die derzeitige spanische Ratspräsidentschaft hat im Anschluss an den Europa-Gipfel noch zu einem informellen EU-Gipfel eingeladen. Dabei soll es um den Kampf gegen unerwünschte Migration gehen. Zudem steht die Frage im Raum, wie sich die EU auf die anvisierte Aufnahme weiterer Länder wie der Ukraine vorbereiten muss. Ratspräsident Charles Michel hatte jüngst das Ziel ausgegeben, dass die EU im Jahr 2030 für eine Erweiterung notwendige Reformen abgeschlossen haben sollte. (mit dpa)