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Erdogan-Herausforderer KilicdarogluWahlkampfvideos aus der Küche und ein Glaubensbekenntnis

Lesezeit 8 Minuten
27.04.2023, Türkei, Tekirdag: Kemal Kilicdaroglu, Parteivorsitzender der türkischen CHP und Präsidentschaftskandidat der Nationalen Allianz, hält eine Rede während einer Wahlkampfveranstaltung. Am 14. Mai finden in der Türkei sowohl Präsidenten- als auch Parlamentswahlen statt. Foto: Francisco Seco/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Überraschender Aufstieg: Kemal Kilicdaroglu hat inzwischen ernsthafte Chancen, die türkische Präsidentschaftswahl zu gewinnen.

Zwei Wochen noch, dann findet der erste Wahlgang der türkischen Präsidentschaftswahl statt. Warum Herausforderer Kemal Kilicdaroglu dem Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan so gefährlich werden kann.

Wenn Präsident Recep Tayyip Erdogan die Fragen des türkischen Staatsfernsehens beantwortet, sitzt er mit Anzug und Krawatte auf einem goldverzierten Stuhl in einem prächtigen Saal mit Kronleuchtern und Fahnen. Wenn Kemal Kilicdaroglu als Erdogans Herausforderer bei der Präsidentenwahl am 14. Mai zu den türkischen Wählern spricht, sitzt er im offenen Hemd zu Hause am Küchentisch, mit Töpfen, Teekocher und abgespültem Geschirr im Hintergrund.

Beim Duell zwischen Erdogan, 69, und Kilicdaroglu, 74, um das höchste Staatsamt stehen die gegensätzlichen Politikstile der beiden Kontrahenten für grundverschiedene Vorstellungen von der Zukunft des Landes. Die Richtungswahl im Mai entscheidet darüber, ob Erdogan (69) mit seinem autokratischen Präsidialsystem und seinem Großmachtanspruch für die Türkei die kommenden Jahre bestimmen wird, oder ob die Türkei unter Kilicdaroglu (74) zur parlamentarischen Demokratie zurückkehrt und einen gemäßigteren außenpolitischen Kurs einschlägt. Die beiden Lager vertreten „zwei sehr verschiedene gesellschaftliche Vorstellungen“, wie Sinan Ülgen, Chef der Istanbuler Denkfabrik Edam sagt. Ülgen sieht eine sozial konservative Vision auf Erdogans Seite und ein pro-westliches Programm mit stärkeren Grundrechten und Geschlechter-Gleichheit auf Seite der Opposition.

Außer den Willen zur Macht verbindet Erdogan und Kilicdaroglu fast nichts. Erdogan ist ein Meister der Polarisierung, der seine Wählerbasis mit Angriffen auf die Gegner mobilisieren kann und mit dieser Taktik fast alle Wahlen der vergangenen 20 Jahre gewonnen hat. Kilicdaroglu schlägt leisere Töne an und macht Wahlkampf mit dem Thema der gesellschaftlichen Versöhnung. Selbst als er kürzlich bei einer Wahlkampftour im Erdbebengebiet von aufgebrachten Erdogan-Anhängern bedrängt wurde, zeigte er Verständnis für die Wut der Erdbebenopfer.

Erdogan-Anhänger wollen einen starken Mann

Zwei Wochen vor der Wahl steht noch nicht fest, welcher Stil den Türken besser gefällt. „Wir lieben ihn“, sagt ein Familienvater und Erdogan-Anhänger in Istanbul über den Präsidenten. Was bei Erdogan aus westlicher Sicht oft schroff und aggressiv erscheint, kommt bei vielen türkischen Wählern gut an, weil sie einen starken Mann an der Spitze des Landes sehen wollen. In Sachen Charisma kann es Kilicdaroglu nicht mit dem Präsidenten aufnehmen. Die Zweifel daran, dass Kilicdaroglu die Wahl gewinnen kann, waren selbst in den Reihen der Opposition so groß, dass seine Kandidatur fast das Bündnis aus sechs Parteien gesprengt hätte, die den Präsidenten im Mai ablösen wollen.

Erdogan hat keine solche Sorgen. Er ist in seiner Partei AKP unumstritten und kultiviert sein Image als strenger Landesvater, der die Probleme der einfachen Leute kennt. Er wuchs im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa als Sohn kleiner Leute auf und erlebte, wie fromme Muslime unter der damaligen Herrschaft der Säkularisten benachteiligt wurden. Diese Erfahrung prägt ihn bis heute und formt seine Überzeugung, dass sich die Türken unter seiner Führung immer wieder gegen mächtige Gegenspieler im In- und Ausland durchsetzen müssen.

Dabei hat sich Erdogan eine pragmatische Beweglichkeit erhalten, die es ihm erlaubt, je nach Lage mit Kurden, Rechtsnationalisten, Islamisten, Militärs, der EU, arabischen Staaten oder Russland zusammenzuarbeiten. Derzeit bemüht er sich um ein Treffen mit dem syrischen Staatschef Baschar al-Assad, den er in den ersten Jahren des syrischen Bürgerkrieges mit Hilfe von Rebellengruppen stürzen wollte. Erdogan setzt zudem seine Frömmigkeit als Brücke zu seiner Anhängerschaft ein, ordnet aber auch seine religiösen Überzeugungen anderen Prioritäten unter, wenn es sein muss: „Ich würde selbst eine Moschee abreißen, um eine Straße zu bauen“, sagte er einmal.

Dieses Rezept verhalf Erdogan zu spektakulären Erfolgen. Er gründete 2001 die AKP, die ein Jahr später die Regierung in Ankara übernahm und bis heute führt. Wirtschaftliche und politische Reformen ließen die Türkei international aufsteigen und bescherten den Bürgern einen bis dahin nicht gekannten Wohlstand. Seine zunehmende Intoleranz – seit seinem Amtsantritt als Staatschef im Jahr 2014 hat die Justiz fast 200000 Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Präsidentenbeleidigung eingeleitet – verschärfte jedoch das innenpolitische Klima. Nach dem Bruch seines Bündnisses mit der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen entging Erdogan 2016 nur knapp einem Staatsstreich und verstärkte den Druck auf Andersdenkende noch weiter. Seit 2018 regiert er als Chef eines Präsidialsystems, das ihm weit reichende Machtbefugnisse ohne wirksame Kontrollen sichert.

Eine zum Teil selbst verschuldete Wirtschaftskrise, die hohe Inflation, Korruptionsvorwürfe und die langsame Reaktion seiner Regierung auf die Erdbebenkatastrophe vom Februar lassen die Unterstützung für den sieggewohnten Präsidenten vor der Mai-Wahl jedoch bröckeln. In früheren Wahlkämpfen profitierte Erdogan von der Zersplitterung der Opposition, doch heute hat er es mit Kilicdaroglus Sechser-Bündnis zu tun, das zudem von der pro-kurdischen Grünen-Links-Partei unterstützt wird. Gesundheitliche Probleme werfen Erdogan in der Endphase des Wahlkampfes zusätzlich zurück: In den vergangenen Tagen musste er mehrere Wahlkampfauftritte absagen.

Ein Alevit als Präsident?

Dabei war Kilicdaroglu lange der Wunschgegner von Erdogan für die Präsidentenwahl. Anders als Erdogan und die Mehrheit der Türken ist Kilicdaroglu kein sunnitischer Muslim. Er gehört zu den Aleviten, einer islamischen Glaubensrichtung, die den Schiiten nahesteht und von manchen Sunniten als ketzerisch verdammt wird. Auch seine Herkunft macht manche türkische Nationalisten misstrauisch: Kilicdaroglu stammt aus der überwiegend kurdischen Provinz Tunceli, in der 1938 ein Aufstand gegen die Regierung in Ankara niedergeschlagen wurde. Bis heute hat Tunceli den Ruf eines Unruheherds.

Nicht nur deshalb galt Kilicdaroglu lange als hoffnungsloser Fall. Der heutige Präsidentschaftskandidat und Chef der Kemalisten-Partei CHP begann seine Karriere als Beamter im Finanzministerium und stieg zum Generaldirektor der türkischen Sozialversicherung auf. In seinen ersten neun Jahren an der Spitze der CHP kassierte Kilicdaroglu gegen Erdogans Partei AKP eine Niederlage nach der anderen. Er fand kein Konzept, um die CHP für neue Wähler zu öffnen. Auf viele türkische Wähler wirkte er wie jemand, der es gut meint, aber nichts zustande bringt. Erdogan verspottet ihn mit der veralteten Anrede „Bay Kemal“ (Herr Kemal), die ausdrücken soll, dass die CHP und ihr Chef den Anschluss an die Moderne verpasst haben.

Krisenhilfe statt nationaler Größe

Zur allgemeinen Überraschung gewinnt Kilicdaroglu seit der Bekanntgabe seiner Präsidentschaftskandidatur Anfang März an Statur. Er hat historische Fehler seiner CHP eingeräumt. Die Partei geht auf Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zurück und führte als frühere Staatspartei mit Unterstützung der Militärs einen Kulturkampf gegen den politischen Islam. Die CHP war damit verantwortlich für einen Großteil des Unrechts, das den jungen Erdogan prägte. Kilicdaroglu sagte sich von dieser Vergangenheit los. Als Zeichen der Veränderung legte er einen Gesetzentwurf vor, der Frauen im öffentlichen Dienst das Recht garantiert, bei der Arbeit ein Kopftuch zu tragen – früher bekämpfte die CHP das Kopftuch als Zeichen des politischen Islam. Der Kandidat will beweisen, dass seine CHP heute das ganze Land – und nicht nur den säkulären Teil – vertritt. Wo Erdogan den Türken neue Größe verspricht, redet Kilicdaroglu über einen Neuanfang in der Wirtschaftspolitik und mehr staatliche Hilfen für Familien, die unter der Krise leiden. Zu seinen Plänen gehört der Verkauf des Präsidentenflugzeugs, einem Symbol von Erdogans Herrschaft. Früher als Erdogan erkannte Kilicdaroglu den wachsenden Ärger der Türken über die 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge im Land. Er verspricht, die Syrer innerhalb von zwei Jahren nach Hause zu schicken.

Schon 2018 schloss Kilicdaroglu das Bündnis mit der rechtskonservativen IYI-Partei, das die Grundlage für die heutige Oppositionsallianz gegen Erdogan bildet. 2019 nominierte Kilicdaroglu die bis dahin weitgehend unbekannten Politiker Ekrem Imamoglu und Mansur Yavas als CHP-Oberbürgermeisterkandidaten in Istanbul und Ankara. Mit ihren Wahlsiegen endete die langjährige Herrschaft von Erdogans AKP in den größten Städten der Türkei. Heute machen Imamoglu und Yavas, die nach einem Wahlsieg der Opposition zu Vizepräsidenten ernannt werden sollen, gemeinsam mit Kilicdaroglu Wahlkampf.

Der Kandidat bietet Erdogans Partei kaum persönliche Angriffsflächen. Kilicdaroglu, der seit fast 50 Jahren mit seiner Frau Selvi verheiratet ist, gilt als integer, bescheiden und höflich, und er pflegt dieses Image mit seinen Küchen-Videos. Dagegen bewegt sich Erdogan bei Besuchen in der Provinz mit einem Konvoi aus Dutzenden Fahrzeugen, für den Straßen gesperrt werden und der den normalen Verkehr lahmlegt. Politisch ist Kilicdaroglu, der früher kein Fettnäpfchen ausließ, plötzlich so trittsicher, dass er die Tagesordnung im Wahlkampf bestimmt. Statt das Misstrauen wegen seiner Religionszugehörigkeit totzuschweigen, ging er das Thema frontal an und bekannte sich in einem seiner Videos zu seinem Glauben. Der Clip wurde innerhalb weniger Tage mehr als 100 Millionen Mal auf YouTube angeklickt. Mit dem Video habe Kilicdaroglu der Regierung eine politische Waffe aus der Hand genommen, kommentierte der Journalist Rusen Cakir im Internetkanal Medyascope.

Kilicdaroglu muss die Nerven behalten

Meinungsforschern zufolge kann Kilicdaroglu immer mehr Wähler von sich überzeugen. In den meisten Umfragen liegt er inzwischen vor Erdogan, auch wenn er nur in wenigen Befragungen mehr als 50 Prozent der Stimmen erhält, die für einen Sieg in der ersten Runde der Präsidentenwahl nötig wären. Wenn kein Kandidat diese Marke erreicht, geht das Rennen am 28. Mai in die Stichwahl. Das Institut MetroPoll ermittelte, dass der Anteil der Wähler, die einen Erfolg von Kilicdaroglu für möglich halten, seit Januar von 32 Prozent auf mehr als 45 Prozent gestiegen ist.

Die wachsende Beliebtheit von Kilicdaroglu hat die Präsidentschaftswahl, die noch vor wenigen Monaten als sichere Bank für Erdogan galt, nun zu einem spannenden Rennen gemacht. In den letzten zwei Wochen vor der Wahl dürfte der Ton in der politischen Auseinandersetzung noch schärfer werden. Bisher habe Kilicdaroglu Erfolg damit, Erdogans rhetorische Angriffe einfach ins Leere laufen zu lassen, meint Cakir. Wenn der Kandidat die Nerven behalte, „könnte er am 15. Mai Präsident sein“.