Donbass, Charkiw und der SüdenSo ist die aktuelle Lage im Ukraine-Krieg
Bis zum 26. Juni, also wohl nicht ganz zufällig bis zum Beginn des G7-Gipfels, will Russland nach Einschätzung der stellvertretenden ukrainischen Verteidigungsministerin Hanna Maljar den Bezirk (Oblast) Luhansk bis zu seinen Verwaltungsgrenzen erobert haben. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erwartet im Laufe dieser Woche entscheidende Kämpfe in seinem Land. Ein Überblick über die aktuelle Gefechtslage – wo nicht anders erwähnt gestützt auf die Analysen des US-amerikanischen Institute for the Study of War (ISW):
Donbass
Russland kontrolliert 90 bis 95 Prozent des Gebiets Luhansk. Zur vollständigen Einnahme – in russischer Terminologie: zur kompletten „Befreiung“ der „Volksrepublik Luhansk“ – als Voraussetzung einer möglichen späteren Annexion wäre abgesehen von kleineren Orten die Eroberung der Schwesterstadt Sjewjerodonezk/Lyssytschansk erforderlich. Beide Großstädte liegen einander am Fluss Siwerskyj Donez gegenüber, Russland hat auch die letzten Brücken zerstört. Die Ukraine hat eingeräumt, dass ihre Truppen in Sjewjerodonezk nur noch das Gelände des Asot-Chemiewerks halten. Dort halten sich auch noch Hunderte Zivilisten auf. Zuletzt hat Russland den Vorort Metolkine im Südwesten erobert. Schwere Kämpfe gibt es auch nördlich und südlich der Doppelstadt – Ziel Russlands ist es offenbar, Lyssytschansk so in die Zange zu nehmen.Im Bezirk Donezk hat Russland offenbar erfolglos versucht, auf die Stadt Slowjanks vorzurücken. Russische Militärblogger haben darauf hingewiesen, dass die ukrainischen Stellungen bei Slowjansk stark befestigt und auch durch ihre Höhenlage beherrschend seien – laut ISW ein Versuch, den bisherigen Misserfolg zu rechtfertigen.
Charkiw
In den letzten Tagen gab es mehrfach Berichte über russische Vorstöße im Umland der Millionenstadt Charkiw. Russisches Ziel war es offenbar, Nachschubwege zu sichern, die vom russischen Belgorod an Charkiw vorbei bis nach Isjum nach der Grenze zum Bezirk Donezk führen. Zugleich nahmen die Russen aber auch die Metropole Charkiw selbst wieder verstärkt unter Feuer. Zuletzt war aber wieder von ukrainischen Gegenoffensiven die Rede, die das Ziel verfolgen, die russischen Truppen bis zur Staatsgrenze zurückzudrängen. Nicht unabhängig zu bestätigen ist die Aussage von Vize-Ministerin Maljar, die Ukraine halte Positionen nahe der russischen Grenze.
Schlangeninsel
17 Hektar groß ist die Schlangeninsel vor dem Donaudelta. Russland hat sie gleich zu Kriegsbeginn erobert und kann von hier aus die Zufahrt in die ukrainischen Hoheitsgewässer kontrollieren.Am letzten Freitag (17. Juni) versenkte die Ukraine vor der Schlangeninsel den russischen Schlepper „Wassilij Bekh“, der ein weiteres Luftabwehrsystem auf die Insel transportieren sollte. Am Dienstag bestätigte der britische Militärgeheimdienst, was ein offenes Geheimnis war: Die Ukraine hatte den Schlepper mit aus dem Westen gelieferten Harpoon-Marschflugkörpern getroffen. Die Lieferung dieser Waffen, so die Briten, habe den Russen weitgehend die Möglichkeit genommen, den Nordwesten des Schwarzen Meers wie zu Kriegsbeginn zu kontrollieren und Odessa von See aus zu bedrohen.
Der Süden
Während Russland den überwiegenden Teil seiner Streitmacht auf den Donbass konzentriert, erleben die Angreifer nahe der Schwarzmeerküste Rückschläge. Sie könnten kriegsentscheidend sein: Ob die Ukraine den Krieg als wirtschaftlich lebensfähiger Staat übersteht, hängt nicht davon ab, wie viel Gelände sie im Donbass verteidigt, sondern davon, ob sie ihren Zugang zum Meer mit dem Hafen Odessa behält. Nur dies sichert auch den Export von Getreide – und damit die Ernährung für Millionen Menschen weltweit.Erbittert umkämpft ist die Schlangeninsel (siehe oben). Auf dem Festland führt die Ukraine Offensiven im russisch besetzten Gebiet Cherson. Die Hafenstadt und ihr Umland sind das einzige Gelände, das Russland auf dem rechten Ufer des Dnipro hält. Einerseits stehen die ukrainischen Truppen nur noch knapp 20 Kilometer vor Cherson, andererseits gibt es auch einen Vorstoß im Norden des Gebiets – nach früherer Darstellung der staatlichen Nachrichtenagentur Ukrinform könnte das Ziel der Dnipro-Staudamm von Nowa Kachowska sein. Das 3,4 Kilometer lange Bauwerk bildet einen der wenigen Übergänge am Unterlauf des Stroms, zudem ist die Anlage für Strom- und Wasserversorgung der russischen Besatzer wichtig.
Die Ukraine dementiert die russische Behauptung, man habe bei Krywyj Rih 50 hohe ukrainische Offiziere getötet. Auch diese russische Darstellung ist aber ein Beleg für die angespannte Lage im Süden.
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In Cherson und im Hinterland des Asowschen Meeres bei Melitopol gibt es nicht nur passiven Widerstand von Zivilisten, sondern auch Angriffe ukrainischer Partisanen auf russische Truppen. Vor allem aus Cherson kommen Berichte über Folter, Verschleppungen, Morde an Zivilisten, mit denen Russland versucht, den Widerstand zu brechen. Nicht unabhängig zu bestätigen ist die Darstellung von Iwan Fedorow, dem aus der Stadt vertriebenen Bürgermeister von Melitopol, dass ukrainische Truppen von Saporischja am linken Dnipro-Ufer aus zehn Kilometer weit auf seine Stadt zugerückt seien. Solche Vorstöße könnten die Landverbindung bedrohen, die Russland zwischen der Krim und dem Donbass erobert hat.
Im Vordergrund steht aber Cherson: Die Ukraine bereitet die Öffentlichkeit auf den Versuch einer Rückeroberung vor. Am Montag rief Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk die Bewohner von Cherson – zu Friedenszeiten waren es über 400 000 Menschen – dazu auf, sich via Krim und Russland ins westliche Europa durchzuschlagen. Einen anderen Fluchtweg gebe es nicht.