Die Sowjet-Ukraine im Herbst 1991Reise in ein untergehendes Imperium
Kiew – Irgendwo zwischen Reppen und Posen beginnt jene Landschaft, die bis kurz vor Kiew die gleiche bleibt. Am späten Vormittag ist der Kiew-Expreß in Berlin abgefahren, Warschau erreichen wir in der Nacht. Wer am anderen Morgen hinter Kowel aus dem Fenster blickt, der könnte meinen, der Zug habe sich kaum von der Stelle bewegt. Es ist immer noch diese weite Ebene, die am Waggonfenster vorüberzieht, Birkenwälder und Nadelholz, dazwischen Felder, flach hingeduckte Häuser, eine Brücke über einen Fluß, ab und zu eine Stadt im Großtafelbau. Als wir 30 Stunden nach der Abfahrt Kiew erreichen, beginnt es schon wieder zu dämmern.
Die Landschaft blieb die gleiche, bis wir die Hügellandschaft vor Kiew erreicht hatten. Und doch soll niemand sagen, es gebe in Europa keine Grenzen mehr. Noch auf polnischem Gebiet hämmert der Schlafwagenschaffner aufgeregt an die Abteiltüren und jagt die Reisenden aus den Betten. Der Kiew-Express schiebt sich langsam über den Grenzflus Bug, gelangt an Stacheldrahtverhauen vorbei in den Grenzbahnhof Brest.
Die Soldaten der Sowjetunion sind noch da
Es mag nicht mehr viel von der Sowjetunion übriggeblieben sein, aber ihre Grenzsoldaten und Zöllner sind noch da. Während mächtige Greifer die Waggons anheben und neue Drehgestelle für die Breitspur montiert werden, stürmt ein Großaufgebot an Uniformträgern die Abteile — um viertel vor drei Uhr morgens. Zwei Stunden lang darf sich niemand hinlegen. Ein besonders sportlicher Offizier mit Fallschirmjägerabzeichen behandelt Türen, Betten und Wandverkleidungen grundsätzlich mit Fußtritten, scheucht die Passagiere auf die Gänge und herrscht eine junge Frau im kurzen Nachthemd an, die sich wenigstens eine Jeans überziehen will. Sein Kollege putzt die der kyrillischen Lettern unkundigen Passagiere herunter, die die Zollerklärungen nicht korrekt ausgefüllt haben, bemerkt die deutschen Reisepässe — und entschuldigt sich seelenvoll: „Ich wusse ja nicht, dass Sie deutsche Brüder sind.”
Es ist ein Schmugglerzug, ein rollender Treffpunkt von Schleichhändlern, in den sich ein paar ausländische Fahrgäste verirrt haben. Der Schlafwagenschaffner hatte vier Videorecorder aus Berlin unter den Liegebänken vor dem polnischen Zoll versteckt und auf dem düsteren Warschauer Ostbahnhof an wartende Komplizen verhökert. Was er in die Ukraine mitnimmt, verrät er uns nicht — Hifi-Geräte, Computer, Schnaps, Pornohefte? Handelten die Grenzer nach ihren Vorschriften, müssten sie wohl drei Viertel der Insassen mit ihrer Ware aus dem Zug holen. Aber was hätten sie davon? Lieber ziehen sie sich mit den einzelnen Schmugglergrüppchen zu vertraulichen Gesprächen in die Abteile zurück und handeln ihren Privattarif aus.
Was bleibt, ist es riesiger Schwarzmarkt
Reise in ein zerfallendes Imperium, von dem ein riesiger Schwarzmarkt übriggeblieben ist: Alles ist käuflich, Waren, Immobilien, Moral. In Kiew bitten die Gastgeber — sie bezeichnen sich als Direktoren privater Firmen — die deutsche Reisegruppe an Bord des Passagierschiffs „Evgenij Vuchetich“, zeigen während der Kreuzfahrt auf dem Dnjepr Filme über eine Kurklinik, die sie den Westlern verkaufen wollen, mehrere Hotels, und schließlich ist auch so ein Schiff für ein paar zigtausend Mark zu haben.
Der Rubelkurs fällt stündlich. Die bleichen Mädchen, die immer Marlboro rauchen, angeblich alle schon 18 „und keine Professionellen“, sie sind für 200 Mark die Woche zu mieten. Zwei Passagiere dagegen mit verschiedenem Geschlecht und verschiedenem Namen erhalten nur Dank gefälschtem Bordausweis eine gemeinsame Kabine.
Im Dezember wird Kiew zur Hauptstadt eines souveränen Staates. Aber die Leninstatuen, sie stehen noch. Es gebe Wichtigeres, als sie zu demontieren, heißt es. Auch der mächtige Bogen hoch über Kiew steht noch, der die Freundschaft zwischen dem ukrainischen und dem russischen Volk symbolisieren soll, und flussabwärts in Tscherkassy stemmt eine monumentale Frauenplastik über einem Gräberfeld eine Fackel in die Höhe, aus der eine Gasflamme lodert: Totenkult für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges.
Viele Überraschungen bei der Reise in die Ukraine
Wer in die Ukraine reist, der muss mit manchen Überraschungen rechnen. Zum Beispiel damit, dass das Kreuzfahrtprogramm plötzlich geändert wird und das Schiff nicht einmal in Dnjepropetrowsk, der Stadt des Potjomkin-Palasts und der Verklärungskathedrale, anlegt.
Dafür stolpern wir einen Tag lang durch die Öde, die Hitler und die Planierraupen sozialistischer Stadtplaner in Tscherkassy hinterlassen haben, oder bestaunen den bunten Markt des Städtchens Nowaja Kachowka. Der Reisende muss auch damit rechnen, dass es durch das Dach des einst in der DDR gebauten Schiffes regnet, dass die Duschtüren lecken und der Teppichboden fault, dass die Bordcafes zwar zahlreich, aber meist geschlossen sind – und dass das Mittagessen aus wechselnden Wassersuppen besteht, gefolgt von etwas Hackfleisch oder Gulasch. Das alles gilt in der Noch-Sowjetunion als Luxus, Ihre Bürger müssen ein Monatsgehalt für eine solche Reise aufwenden.
Tagelang gleitet das Schiff den Dnjepr hinab, und zuweilen bieten sich Bilder von überwältigender Schönheit dar: die Steilküsten der gewaltigen Seen, zu denen Europas drittlängster Strom aufgestaut wurde, Pappelreihen im Gegenlicht — Stimmungen wie in der Toskana An der strahlend beleuchteten, Stadt Cherson vorbei fährt die „Evgenij Vuchetich“ nachts in das Schwarze Meer ein. Dann erreichen wir Odessa: Vom Hafen aus führt eine grandiose Freitreppe hinauf in die klassizistische Innenstadt mit ihrem-antikisierenden Rathaus, der prunkvollen Oper und dem gemütlichen Zirkusgebäude. Heute ist das Ende des 18. Jahrhunderts gegründete Odessa eine lärmende Millionenstadt. Eine Frau in der Straßenbahn lächelt mit einem ganzen Mund voller Goldzähne: die Ukraine ist eigentlich ein reiches Land. In einem Außenbezirk liegt ein Militär-Kaufhaus. Hier kann jedermann ohne Ausweis Uniformteile erstehen, eine Offiziersmütze zu 20 Rubel — die Schiffsbesatzung dreht solche Mützen den Westlern für ein Vielfaches an.
Die Koffer werden eigenhändig verladen
Geschäftstüchtig sind auch unsere Gastgeber, die uns eröffnen, dass für den Rücktransport von Odessa nach Kiew nicht gesorgt sei. Aeroflot fliege die Linie, aber das müssten wir leider aus eigener Tasche zahlen, 252 Mark genau — für Sowjetbürger kostete der Flug über 30 Rubel, sagen mir Freunde später, also nicht einmal mehr eine Mark. Mittlerweile liegt der der Tarif bei ganzen 90 Rubeln.
Ohne jede Sicherheitskontrolle schleppen wir unsere Koffer auf das Flugfeld und verladen sie selbst in die kleine Turboprop-Maschine, die mit einem Höllentempo über das Rollfeld kurvt, ehe sie abhebt. Der Pilot, eine Bärennatur, hat nichts dagegen, wenn man nach vorne kommt und ihm über die Schulter schaut, bis er seine Maschine nach einer Stunde in Kiew aufsetzt.
Vielleicht wird Kiew eines Tages wieder zu den großen Metropolen Europas gehören. Wochen würden nicht ausreichen, seine verschiedenen Gesichter kennenzulernen: Die Stadt der Museen, Theater und Hochschulen, brodelnder Verkehrsknotenpunkt mit fast drei Millionen Einwohnern, Zentrum der Schwerindustrie, vor allem aber eine Stadt, die einst den Anspruch erhob, neben Konstantinopel das „dritte Rom“ zu sein. Vom Höhlenkloster oberhalb der Stadt schweift der Blick über die goldenen Kuppen im Tal des Dnjepr. Von der stalinistischen Architektur am einstigen „Platz der Oktoberrevolution" sind es nur ein paar Schritte zur Sophienkathedrale. Ausgrabungen und freigelegte Fresken dokumentieren die Geschichte dieses Bauwerks bis an die Schwelle des hohen Mittelalters zurück — Kiews Glanzzeit, als der „Kiewer Rus“ Kern des heutigen Russland und der heutigen Ukraine war.
Höhlenkloster und Sophienkathedrale sind heute Museen. Aber die orthodoxe Kirche hofft auf eine Rückgabe ihrer Heiligtümer. Vielleicht ist der Tag nicht mehr weit, an dem wieder Mönche im Höhlenkloster leben und der Metropolit von Kiew die Messe in der Sophienkathedrale liest. Und ganz in der Nähe des sozialistischen Gräberfeldes von Tscherkassy ist ein Holzkreuz in die Erde gerammt: Die abgebrochene Kathedrale wird wieder aufgebaut.
Nachwort 2022
Dieser Text ist erstmals am 8. Juli 1992 (!) im Reiseteil der Kölnischen Rundschau erschienen dabei war ich schon im September 1991 in die Ukraine gefahren. Aus organisatorischen Gründen blieb mein Beitrag liegen und musste für die Veröffentlichung überarbeitet werden (nun war die Ukraine ja ein unabhängiger Staat). Diese Änderungen und eine unglückliche Kürzung am Anfang habe ich rückgängig gemacht und die Rechtschreibung modernisiert, sonst blieb alles wie damals gedruckt. Auch die Ortsnamen, die in ihrer russischen Version erschienen. Den Dnjepr nennen wir heute Dnipro, die Stadt Dnjepropetrowsk wurde ebenfalls schlicht in Dnipro umbenannt, und aus Nowaja Kachowka wurde Nowa Kachowka. Und ja, peinlicherweise bin ich auf den Mythos vom „Kiewer Rus“ reingefallen. Den gab es zwar – aber dieser früh- und hochmittelalterliche Fürstenverband hatte mit dem heutigen russischen Staat, der in der Frühen Neuzeit aus dem Großfürstentum Moskau entstand, ebenso wenig zu tun wie mit der modernen Ukraine.
Es war keine journalistische Dienstreise, sondern eine touristische Erkundungsfahrt, die ein auf Osteuropa spezialisiertes Reisebüro interessierten Selbstzahlern angeboten hatte. Die Firma, die heute nicht mehr besteht, stieg dann auch ins Geschäft mit Dnipro-Kreuzfahrten ein. So eine Reise war ab 899 Mark zu buchen.
Erlebt habe ich wenige Wochen nach der ukrainischen Unabhängigkeitserklärung (vom 24. August 1991) vor allem sowjetische Agonie. Die habe ich geschildert, und ich hoffe, ukrainische Leser-inn-en nehmen mir das heute nicht übel.
Von der Geburt des neuen Staates habe ich vor allem ein Detail mitbekommen, das im Sommer 1992 aber nicht mehr in eine Reisereportage passte: große Demonstrationen mit den blau-gelben ukrainischen Nationalfahnen in Kiew, aber auch Gegendemonstrationen mit den blau-roten der damaligen Ukrainischen Sowjetrepublik. Ich habe die „Direktoren“, aber auch unseren Dolmetscher gefragt, was das denn zu bedeuten hat, ob die Ukrainer denn wirklich unabhängig werden wollen. „Wir wissen es auch nicht genau“, bekam ich zu hören. Allerdings: Die Gesprächspartner hatten ihre Karriere in sowjetischen Tourismusfirmen gemacht. Von Studierenden oder jungen Berufstätigen hätte ich vielleicht eine andere Antwort bekommen. Jedenfalls waren die blau-gelben Fahnen in der Mehrzahl, und das spiegelte sich dann ja im Ergebnis des Referendums über die Unabhängigkeit im Dezember: 90,3 Prozent landesweit, klare Mehrheiten in allen Regionen, sogar auf der Krim.
Unvergesslich auch das herbstliche Vorspeisenbüffet, mit dem wir in Kiew empfangen wurden: Opulente Platten voller Pilzgerichte, 70 Kilometer von Tschernobyl entfernt und nur fünf Jahre nach der Reaktorkatastrophe. Ich konnte mich darauf hinausreden, dass ich leider keine Pilze esse (stimmt wirklich).
Ob die „Direktoren“ nun wirklich Investoren fanden? Jedenfalls bestand eine 1991 gegründete Reederei mit dem hübschen Namen „Tscherwona Ruta“ (Weinraute) noch bei Kriegsbeginn. Sie betrieb (und betreibt hoffentlich auch künftig) die ehemalige „Evgeny Vuchetich“, gebaut 1974 in Boizenburg an der Elbe und zur Zeit meiner Reise noch benannt nach dem Schöpfer der Wolgograder „Mutter Heimat“ sowie des sowjetischen Ehrenmals Berlin-Treptow. Heute heißt das – renovierte – Schiff „Printsesa Dnipra“. Die Kathedrale in Tscherkassy wurde von 1994 bis 2002 wirklich errichtet. Und den einstigen Bogen der russisch-ukrainischen Freundschaft hat der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko nach Kriegsbeginn zum „Freiheitsbogen“ umgewidmet. (rn)