Spaniens Fußballpräsident Luis Rubiales küsste WM-Stürmerin Jennifer Hermoso auf den Mund - gegen deren Willen. Und musste als Konsequenz zurücktreten. Was dieser Vorfall über die Entwicklung in Spanien sagt.
Die Kussaffäre im spanischen Fußball und ihre FolgenSkandal im „Referenzland der Gleichstellung“
Ein unerwünschter Kuss ging dieses Jahr um die Welt – und er veränderte Spanien. Die Kuss-Affäre zeigte eindrucksvoll, dass sich viele Frauen in Spanien nichts mehr gefallen lassen. Das einst erzkonservative Land, in dem Frauen vor 50 Jahren nicht einmal ein Bankkonto ohne Zustimmung ihres Ehemannes eröffnen durften, gehört heute im Kampf für Gleichstellung und gegen männliche Überheblichkeit zu Europas Pionieren.
Zur Erinnerung: Am 20. August gewann Spaniens Frauen-Fußballteam im Finale gegen England den WM-Titel. Bei der Siegerinnenehrung in Sydney umklammerte der spanische Kickerverbandschef Luis Rubiales mit beiden Händen den Kopf von Spaniens Stürmerin Jennifer Hermoso und drückte ihr einen Kuss mitten auf den Mund. Die Spielerin bekannte hinterher: „Das geschah ohne meine Zustimmung. Ich habe mich als Opfer einer Aggression gefühlt.“
Der Zwangskuss löste große Empörung aus. Eine „MeToo“-Welle rollte durch Spanien, in der sich viele Frauen mit „Jenni“ Hermoso solidarisierten und bekundeten, dass sie ebenfalls in ihrem Alltag unter Grabschern und unerwünschten Küssen zu leiden haben. Spaniens Fußballboss musste zurücktreten. Der Weltverband FIFA sperrte Rubiales, der zugleich Vizechef der Uefa war, für drei Jahre.
Radikaler Wandel
„Spanien hat gesagt: Es reicht!“ So fasste Regierungschef Pedro Sánchez im Rückblick die öffentliche Reaktion auf den Kuss-Vorfall zusammen. Der Sozialdemokrat sieht den Aufschrei der Frauen als Bestätigung für einen radikalen Wandel des Landes. Weg von einer Gesellschaft, in der viele Männer glaubten, sich alles erlauben zu dürfen. Hin zu einem Zusammenleben, in dem Respekt gegenüber Frauen und der Einsatz für Gleichberechtigung zu einer staatlichen Priorität wurden.
Unter Sánchez entwickelte sich Spanien zum europäischen Vorreiter im Kampf gegen Diskriminierung. Nach dem europäischen Gleichberechtigungsindex (gender equality index) für 2023 hat Spanien in den letzten Jahren mit zahlreichen Gesetzesreformen zu 76,4 Prozent die Gleichstellung von Frauen und Männern erreicht. Nur Schweden, Dänemark und die Niederlande stehen noch etwas besser da. Der EU-Schnitt, in dessen Umfeld zum Beispiel Deutschland oder Österreich angesiedelt sind, liegt bei 70,2 Prozent.
„Wir wollen Spanien zu einem weltweiten Referenzland für die Gleichstellung machen“, verkündete Sánchez vor Kurzem von der absoluten Mehrheit des Parlamentes für eine neue Legislaturperiode bestätigt wurde. Seit sechs Jahren regiert der 51-Jährige mit einem progressiven Kurs das Land. Er sagt über sich selbst: „Ich bin Feminist.“ Schon mit seinem Kabinett setzt Sánchez Zeichen: Es besteht aus zwölf Frauen und zehn Männern.
Zu den Schlüsselfiguren gehört die 57-jährige Frauenministerin Ana Redondo, eine erfahrene Juristin. „Spanien hat Fortschritte gemacht“, sagt sie bescheiden. In Wirklichkeit ist es ein Riesensprung. Das südeuropäische Land wird heute von einer der weiblichsten Regierungen Europas geführt – die Frauenquote im Kabinett liegt bei 55 Prozent (EU-Schnitt: 33 Prozent).
„Es bleibt noch viel zu tun“, sagt Redondo. Gleich in der ersten Sitzung der neuen Sánchez-Regierung aus Sozialdemokraten und Linksallianz Sumar brachte die Frauenministerin ein Paritätsgesetz durchs Kabinett. Die Reform, die das Parlament noch absegnen muss, sieht vor, dass in Führungsetagen von Wirtschaft und Verwaltung sowie auf politischen Wahllisten wenigstens 40 Prozent Frauen vertreten sein müssen. „Die Hälfte der Macht gehört ihnen“, sagt Premier Sánchez.
In Spaniens Abgeordnetenkammer beträgt der Frauenanteil unter den Volksvertretern 44 Prozent – ebenfalls ein Spitzenwert in der EU. In der spanischen Privatwirtschaft gibt es hingegen noch großen Nachholbedarf. Dort liegt die Frauenquote im Management börsennotierter Konzerne nur bei 20 Prozent.
Menstruationserlass und Selbstbestimmungsgesetz
Bereits in den vergangenen Jahren machte Spanien immer wieder mit gesellschaftlichen Reformen Schlagzeilen. Etwa mit einem Menstruationserlass, der Arbeitnehmerinnen mit starken Regelschmerzen das ausdrückliche Recht einräumt, sich krankzumelden. Und mit einem Selbstbestimmungsgesetz, das es trans- und intergeschlechtlichen Menschen ab 16 Jahren ermöglicht, unbürokratisch ihren Geschlechts- und Namenseintrag im Personenstandsregister zu ändern.
Oder das „Gesetz zum Schutz der sexuellen Freiheit“, das die Definition sexueller Übergriffe dahingehend änderte, dass jede körperliche Beziehung ohne klare Zustimmung beider Partner als Vergewaltigung geahndet werden kann. Schweigen oder mangelnde Gegenwehr darf somit vor Gericht nicht mehr als Einverständnis ausgelegt werden. Die EU-Kommissarin für Gleichstellung, Helena Dalli, bezeichnet diese Reform als vorbildlich – sie will dieses „Nur-ein-Ja-ist-ein-Ja“-Gesetz in EU-Recht verwandeln.
Doch auch in Spanien gibt es Widerstand gegen das Ende des Patriarchats. Vor allem die Rechtspartei Vox, die in etlichen Regionen und Rathäusern zusammen mit der konservativen Volkspartei regiert, will das Rad zurückdrehen. Den Kampf gegen Machismus und Sexismus lehnt die rechte Vox, Spaniens drittstärkste Partei, als „ideologisches Konzept“ ab. Wo Vox an der Macht ist, werden Gleichstellungsbehörden geschlossen, Gelder für Frauenpolitik gestrichen und AufklärungsKampagnen zur Gleichberechtigung zurückgefahren.
Spaniens neue Frauenministerin Ana Redondo muss also im Land noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Aber sie gibt sich kämpferisch: „Es ist wichtig“, sagt sie, „gegen jene anzugehen, die uns ins Höhlenzeitalter zurückführen wollen.“