Verzweiflung in Diyarbakir: Die Metropole im türkischen Kurdengebiet ist schwer von der Erdbebenkastrophe getroffen. Die Zentralregierung misstraut den Bürgern – und glauben nicht an die Zusagen ihrer Verwaltung.
Türkische Metropole Diyarbakir nach der Erdbebenkatastrophe„Denen trauen wir nicht“
„Verbote, Verbote, was sind das für Verbote“, schreit eine Frau über das Polizeigitter an einer Hauptverkehrsstraße von Diyarbakir hinweg einen vermummten Polizisten an, der betreten schweigt. „Irgendjemand muss uns doch irgendwann etwas sagen!“
In der großen Moschee von Diyarbakir, die auf das Jahr 639 und die arabische Eroberung der Stadt zurückgeht, liegen am Sonntagmorgen schlafende Gestalten unter Decken auf dem Teppich, während sich andere Erdbebenopfer am Brunnen im Vorhof waschen. In den Kirchen der Stadt fällt der morgendliche Gottesdienst aus. Die Armenier sind nach Antakya gefahren, um bei Beerdigungen zu helfen, die Assyrer nach Adiyaman, um der Gemeinde dort beizustehen; nur in der protestantischen Kirche wird gebetet – dort haben rund 30 obdachlose Gemeindemitglieder Zuflucht gesucht und sitzen um den Ofen beim gemeinsamen Frühstück. Trotz seiner blutigen Geschichte von Völkermord, Vertreibungen und Kriegen bis in die jüngste Vergangenheit ist Diyarbakir bis heute eine multikulturelle Stadt geblieben mit vielen Sprachen, Religionen und Kulturen.
Obrigkeit wähnt PKK-Anhänger unter den Bürgern
Das Gitter riegelt die Einsturzstelle des Galeria-Wohnturms ab, einer Wohnanlage mit 36 Apartments an den römischen Stadtmauern der Kurdenstadt in Südostanatolien. Vor den Resten des Galeria-Komplexes und anderen Trümmerbergen in Diyarbakir warten Verwandte von Erdbebenopfern auf eine Nachricht der Bergungsteams – selbst hingehen und helfen dürfen sie nicht, sie werden von Polizisten zurückgedrängt. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich in den kalten Nächten an Holzfeuern zu wärmen, bis ihnen jemand mitteilt, ob ihre Angehörigen tot sind oder leben. Zum Leid, das alle Überlebenden und Obdachlosen des Erdbebens teilen, kommt in Diyarbakir der Kurdenkonflikt: Die Obrigkeit misstraut den Bürgern, weil sie viele als Anhänger der kurdischen Terrororganisation PKK sieht, während viele Bürger die Staatsvertreter ablehnen. Die Stadt steht unter Zwangsverwaltung der türkischen Zentralregierung, es gibt keine Verständigung zwischen Bürgern und den Behörden, die ihnen helfen sollen.
Seit fast einer Woche stehe sie nun hier, sagt die Frau am Polizeigitter, die Ayse heißt und 62 Jahre alt ist. In dem eingestürzten Galeria-Wohnturm lebte ihr Bruder mit seiner Frau und zwei Kindern – eine Tochter und ein Sohn. Sie weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Zum Gouverneursamt und zum Landrat sei sie gelaufen, habe überall um Information gebettelt, aber niemand wolle ihr etwas sagen. Die umstehenden Angehörigen stimmen in ihre Klage ein: Die Staatsgewalt halte sie von der Unglücksstelle fern, und gesagt werde ihnen kein Wort.
Einen dicht gedrängten Haufen Unglück bilden die Angehörigen hier in dunklen Wintermänteln mit bunten Tupfern auf den Kopftüchern der Frauen. Die Einsturzstelle ist so weiträumig abgesperrt, dass von den Arbeiten nicht viel mehr zu sehen ist als der hydraulische Kran – wie viele der 13 Stockwerke abgetragen sind, ist von hier aus schwer zu erkennen. Helfen dürften sie ohnehin nicht, sagt eine andere Frau bitter. Ihrem Neffen, der sich als freiwilliger Helfer melden wollte, sei erklärt worden, das sei Sache des Staates. „Es würde ja reichen, wenn ab und zu einer rüberkommt und uns berichtet“, sagt Ayse. „Ist das denn wirklich zu viel verlangt?“
Fast 300 Menschen sind durch das Beben in Diyarbakir ums Leben gekommen, hunderte Häuser sind eingestürzt oder so schwer beschädigt, dass sie unbewohnbar sind. Dabei hatte sich die Stadt noch nicht von den letzten Zerstörungen erholt: Vor sieben Jahren hatten monatelange Straßenkämpfe zwischen der türkischen Armee und der PKK große Teile der Innenstadt verwüstet. Jetzt hat das Erdbeben wieder Zehntausende in Diyarbakir obdachlos gemacht. Zwei Zeltstädte sind seit dem Beben vor einer Woche in der Innenstadt aufgebaut worden, eine weitere mit mehr als 4000 Zelten entsteht am Stadtrand. Trotzdem reichen die Kapazitäten nicht.
Erdogans Justizminister wird ausgebuht
Nach dem Erdbeben durchdringt das Misstrauen vieler Bürger gegen die Zentralgewalt den Alltag der Stadt. Eine Frau zeigt Fotos von den Spenden für Obdachlose, die sie mit ihren Nachbarn gesammelt hat: Decken, Windeln, Tee und Lebensmittel. „Wir passen aber auf, dass das nicht der Zwangsverwaltung in die Hände fällt“, sagt sie. „Wir verteilen das selbst, denn denen trauen wir nicht.“ Auch ein junger Kurde in einer der Zeltstädte ist verbittert. „Sie lassen uns nicht helfen, unsere eigenen Leute auszugraben, weil wir angeblich zu ungebildet sind“, sagt er. „Aber wenn sie irgendwo einmarschieren wollen, dann sind wir plötzlich gut genug, um abkommandiert zu werden.“
Als Erdogans Justizminister Bekir Bozdag nach Diyarbakir kommt, um sich die Erdbebenschäden anzusehen, wird er ausgebuht. „Diebe, Diebe“, rufen Passanten. Kurz darauf besucht Erdogan selbst die Stadt. Er inspiziert eine Zeltstadt und kämpft gegen den Eindruck, der Staat lasse die Opfer im Stich. „Vertraut uns, glaubt uns“, beschwört er seine Zuhörer. „Wir lassen niemanden auf der Straße sitzen, wir lassen niemand unter den Trümmern, ob tot oder lebendig.“
Auch die staatlichen Behörden in Diyarbakir weisen den Vorwurf zurück, die Menschen würden allein gelassen. Sie haben nicht nur die Zeltstädte errichten lassen, sondern auch Museen, Moscheen, Turnhallen und Gemeindezentren für die Versorgung der Opfer geöffnet. Warme Mahlzeiten werden verteilt, die öffentlichen Busse können gratis benutzt werden. Trotzdem kann Erdogan bei seinem Besuch nicht viele Menschen in Diyarbakir überzeugen, der Applaus für seine Rede bleibt dünn. Wer hier fehle, das seien die Volksvertreter, bemerkt eine junge Frau an einem eingestürzten Haus in einiger Entfernung zu dem Platz, auf dem Erdogan spricht – die Politiker seien sich offenbar zu schade, um mit den Menschen hier zu stehen, mit ihnen zu warten und zu leiden. „Immer die starken Sprüche, aber nichts dahinter“, sagt sie. „Denkt mal, gestern drohten sie den Griechen noch, sie würden über Nacht kommen – und jetzt sind es die Griechen, die gekommen sind.“
„Stadtverwaltung hat nicht getan“
Auch der Parlamentsabgeordnete Sezai Temelli widerspricht dem Präsidenten. Der Zentralstaat sei beim Erdbeben gescheitert, sagt der ehemalige Vorsitzende der Kurdenpartei HDP unserer Redaktion in Diyarbakir. „Die Stadtverwaltung hat nichts getan und tut immer noch nichts. Die Leute helfen sich gegenseitig und schlagen sich so durch“, sagt Temelli.
Vor den Trümmerhaufen von Diyarbakir versuchen Freunde und Verwandte von Vermissten, sich Mut zu machen. Im Gedränge an den Absperrungen vor einem eingestürzten Wohnhaus in der Kurt-Ismail-Pascha-Straße wartet eine Freundesgruppe auf Nachricht von zwei Brüdern, dem 19-jährigen Sidar Bulak und seinem Bruder Kadir, die mit ihrer Mutter in den Trümmern des zehnstöckigen Gebäudes vermisst werden. Ein hydraulischer Kran und ein Bagger sind hier am Werk, dichter Staub liegt in der Luft.
Am Samstagmorgen ist hier noch eine Frau lebend herausgeholt worden, deshalb wollen Kübra, Apo und ihre Freunde die Hoffnung nicht aufgeben, obwohl sie schon fast eine Woche vergeblich in der bitteren Kälte warten. Kadir sei doch unverwüstlich, versucht die 23-jährige Gamze die Gruppe aufzumuntern. „Na warte, den werden wir versohlen, wenn er da rauskommt“, scherzt sie und kann damit sogar Kadirs Onkel ein Lächeln abringen, obwohl ihm die Tränen in den Augen stehen. Er war es, der den Vater der Familie anrufen musste, seinen Bruder – der war zur Arbeit in der Westtürkei, als seine Frau und Söhne beim Beben verschüttet wurden. Jahrelang habe die Familie um die Ecke im Haus neben ihm gewohnt, bevor sie hierher zog, erzählt der 17-jährige Yusuf, und seine Unterlippe zittert. Er ist von Kindheit an mit Sidar befreundet, und Gamze mit Kadir seit der ersten Klasse. Die Freunde wollen nicht weichen, bis die Brüder gefunden sind – und sie wollen fest daran glauben, dass sie leben.
Niemand will die Hoffnung aufgeben
Bewegung kommt in die Menge, ein Krankenwagen wird eingewinkt: Gute Nachrichten? Doch es ist ein schwarzer Leichensack, der eingeladen wird. „Nein, keiner von den unsrigen“, berichtet ein junger Mann, der resigniert aus der ersten Reihe zurückfällt. „Eine ältere Frau soll es gewesen sein“, hat er von den Helfern erfahren. Er wartet auf Kunde von einer jungen Familie aus seiner Verwandtschaft, die Frau ist schwanger. Der Krankenwagen fährt ohne Sirenen fort. Eltern oder Kinder von Vermissten sollten sich zum Leichenhaus begeben, um DNA-Proben abzugeben, damit die Toten identifiziert werden könnten, ruft ein Mann durch den Zaun in die Menge. Doch niemand weicht vom Zaun zurück, niemand will die Hoffnung aufgeben, dass ihre Freunde oder Verwandten im nächstem Augenblick doch noch lebend hervorgezogen werden. Aufgeben und weggehen von hier, das würde bedeuten, die Hoffnung und den geliebten Menschen aufzugeben. Und deshalb bleiben sie.
Dunkelheit senkt sich, Scheinwerfer flammen auf, die Temperatur fällt weit unter den Gefrierpunkt. Familien gruppieren sich um Lagerfeuer auf einem leeren Grundstück, um eine weitere lange Nacht durchzustehen. „Was bleibt uns anderes übrig“, sagt eine völlig erschöpfte Frau, die auf ihre Schwester und deren Familie wartet. „Der war im zweiten Stock“, sagt ein Polizist, als ein weiterer Leichensack abtransportiert wird. „Aber das heißt nichts“, fügt er hinzu, als er die entgeisterten Gesichter sieht. „Die Stockwerke sind völlig durcheinander, wir haben noch längst nicht alle.“
Aus dem Haus an der Kurt-Ismail-Pascha-Straße wird in der Nacht zum Sonntag noch ein lebloser Körper gezogen; es sind die sterblichen Überreste der Sängerin Zilan Tigris, die mit ihrem Ehemann – einem Schauspieler – hier wohnte. Die armenisch-kurdische Künstlerin, die bürgerlich Dilek Kücüker hieß, sang Lieder in allen Sprachen der Stadt – Kurdisch, Armenisch, Arabisch, Aramäisch, Zaza und Türkisch – und verkörperte mit ihrer Biografie und ihrer Musik den Geist dieser uralten Stadt am Tigris. Beim Mittagsgebet wird sie am Sonntag in Diyarbakir beerdigt.