„Das Essen wird nicht knapp“Özdemir bezieht Position zu Tierwohl und Bauernprotesten
Eine höhere Mehrwertsteuer auf Fleisch? Oder eine Verbraucherabgabe an der Kasse für bessere Ställe? So oder so: Die FDP macht da bislang nicht mit. Grund genug für Bundesagrarminister Cem Özdemir (Grüne), den Koalitionspartner im Interview mit Dirk Fisser scharf zu kritisieren.
Herr Özdemir, wir leben in außergewöhnlichen Zeiten. Die Gasversorgung ist nicht mehr gesichert. Manch einer empfiehlt, kalt zu duschen, um Gas zu sparen. Wie viel Verzicht kann die Bundesregierung der Bevölkerung zumuten?
Billiges Gas ist eine deutsche Lebenslüge. Darauf beruhte das Wirtschaftsmodell der letzten 16 Jahre unter Führung der Union, für das wir nun die teure Rechnung zahlen. Der Winter kommt. Wir wissen nicht, was Putin plant. Alle sind gefordert Energie einzusparen, selbstverständlich auch im privaten Bereich. Was jetzt nicht verbraucht wird, steht im Winter zur Verfügung.
Aber ich will jetzt nicht alles aufs Duschen schieben: Dadurch werden wir die Probleme nicht lösen. Es ist nur ein schnell und einfach zu leistender kleiner Beitrag. Niemand bekommt vorgeschrieben, wie geduscht wird, und meiner Erfahrung nach sind wir zum Glück kein Land von Warmduschern (lacht).
Bislang wird privaten Haushalten bei Engpässen als letztes das Gas abgedreht. Wie sinnvoll ist das, wenn zugleich Lebensmittelindustrie und Landwirtschaft massiv von Gas abhängig sind und das Essen knapp werden könnte?
Das Essen in Deutschland wird nicht knapp. Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln ist natürlich systemrelevant. Das haben wir bei einer Abwägung im Blick. Dazu gehören auch Bereiche, auf die man auf den ersten Blick gar nicht kommt, beispielsweise Verpackungen. Ohne die kommen die Lebensmittel nicht zum Verbraucher.
Özdemir will Tierhaltungskennzeichen einführen
Sie wollen ein Tierhaltungskennzeichen auf den Weg bringen. Ihre zwei Vorgänger sind daran gescheitert. Warum wird es Ihnen gelingen?
In der Vergangenheit wurden echt Chancen liegen gelassen: kaum Inflation, solide Staatsfinanzen, keine Raketen auf Kiew. Es wäre sehr viel leichter gewesen, ein Haltungskennzeichen auf den Weg zu bringen. Nun ist es an mir und mein Wort gilt: Das Kennzeichen kommt, die Bauern können sich darauf verlassen. Es befindet sich bereits in der Abstimmung innerhalb der Bundesregierung.
Warum sollten die Bauern mitmachen wollen? Die Finanzierung ist nicht gesichert.
Ich habe eine Milliarde Euro als Anschubfinanzierung. Das ist genug, um auf den Startknopf zu drücken im Bereich der Schweinehaltung. Das werden wir machen. Aber klar ist auch: Wir brauchen eine Finanzierung nicht nur für den Umbau der Ställe, sondern auch für laufende Mehrkosten, die unsere tierhaltenden Betriebe haben, wenn sie auf mehr Tierschutz setzen. Weniger Tiere besser halten, das kostet etwas.
Da müssen wir unterstützen – auch für die Zukunft des ländlichen Raums. Jeder Euro, den wir investieren ist gut angelegt, denn weniger Tiere sind gut für das Klima, mehr Platz für die Tiere dient dem Tierschutz und ein verbindliches staatliches Haltungskennzeichen hilft den Verbraucherinnen und Verbrauchern bei der Kaufentscheidung. Tierhaltung muss in Deutschland eine Zukunft haben, wir benötigen sie in der Kreislaufwirtschaft beispielsweise für den Wirtschaftsdünger.
Wieso kann sich die Bundesregierung da nicht einigen? Mehrwertsteuer-Erhöhung, Tierwohlabgabe… an Ideen mangelt es ja nicht.
Ich bin da offen, wie wir die bessere Tierhaltung finanzieren. Ich hätte mir als Vegetarier nicht träumen lassen, die FDP einmal davon überzeugen zu müssen, dass wir auch künftig gutes Fleisch aus Deutschland auf den Tisch bekommen. Genau darum geht es aber.
Özdemir: Heimische Tierhaltung muss zukunftsfest sein
Wer weiterhin Fleisch von hier will, muss die heimische Tierhaltung zukunftsfest machen, sonst gibt es sie bald nicht mehr. Wer dann Fleisch isst, bekommt es aus dem Ausland importiert. Das kann auch die FDP nicht wollen. Das verbindliche staatliche Haltungskennzeichen ist daher ein Beitrag gegen das Höfesterben. Wir sichern Hofnachfolgen, weil wir Perspektive und wirtschaftliche Absicherung schaffen.
In den Niederlanden hat es massive Bauerndemonstrationen wegen der Stickstoffpolitik der Regierung gegeben. Viele deutsche Landwirte zeigen sich solidarisch. Haben Sie Sorge vor holländischen Zuständen auf deutschen Straßen?
Langsam! Es geht um zwei verschiedene Sachverhalte: In den Niederlanden geht es aktuell um Ammoniak in der Luft, in Deutschland um den Schutz des Grundwassers vor Nitratbelastung. Das sind zwei unterschiedliche Dinge mit unterschiedlichen Ansätzen. Richtig ist: Unseren Landwirten wurde zehn Jahre lang mit mehrfachen, unzureichenden Anpassungen der deutschen Düngeregeln vorgegaukelt, für sie würden EU-Regeln zum Grundwasserschutz nicht gelten und man könne das irgendwie aussitzen. Dem aber ist nicht so.
Deutschland haben horrende Strafzahlungen gedroht, die hätten dann alle zusammen bezahlen müssen. Zusammen mit dem Umweltministerium und den Ländern räumen wir nun in wenigen Monaten ein Verfahren ab, bei dem meine Vorgänger in zig Jahren keinen Deut weitergekommen sind. Und deshalb muss ich da jetzt Sachen umsetzen, die in den vergangenen zehn Jahren versäumt worden sind. Dazu gehört auch, die Länder zum Ausbau eines dichteren Messstellennetzes zu bringen.
Die EU-Kommission will zur Steigerung der Getreideproduktion Ausnahmen bei strengeren Umweltregeln für Landwirten zulassen. Was halten Sie davon?
Wir leben in einer Zeit der multiplen Krisen, die wir nur gemeinsam meistern können. Die Sicherung der Ernährung für die Weltbevölkerung wird dauerhaft nur gelingen, wenn wir Klimakrise und Biodiversitätsverlust endlich mit der notwendigen Entschiedenheit bekämpfen. Was Brüssel anbietet, ist daher mit Vorsicht zu genießen. Anstatt selber die Verantwortung für eine nachhaltige Agrarpolitik zu übernehmen, schiebt die EU-Kommission die Mitgliedsstaaten vors Loch. Sie selbst entzieht sich dem Unmut mancher Landwirte über bestimmte Nachhaltigkeitsziele und überlässt die Abwägung zwischen Kosten und Nutzen den Mitgliedsstaaten.
Bauernverband: Dürre setzt dem Weizen zu
In der Getreideernte gibt es bundesweit vor allem beim Weizen Dürreschäden. Heiße Tage im Juni hätten den Weizen deutlich getroffen, teilte der Deutsche Bauernverband mit. Ertrag und Qualität ließen zu wünschen übrig. Nach der Trockenheit der vergangenen Wochen hätten auch Tierhalter Sorgen um Futternachschub. Ein zweiter oder dritter Schnitt auf den Wiesen stehe in vielen Regionen in Frage. Der Mais leide ebenfalls unter hohen Temperaturen. Die Wintergerste sei mit einem „blauen Auge“ davongekommen, hieß es nach Rückmeldungen aus den 18 Landesverbänden. Auch der Raps scheine regional leidlich durch die Dürre gekommen zu sein. Insgesamt hatte der Verband zum Ernteauftakt Ende Juni eine etwas schwächere Getreideernte von 41,2 Millionen Tonnen prognostiziert. (dpa)
Wie meinen Sie das?
Die Kommission unterstreicht in ihrer Entscheidung die große Notwendigkeit des Umwelt- und Artenschutzes in der Landwirtschaft und knüpft deshalb die Ausnahmeregelungen daran, dass die Mitgliedsstaaten Öko-Regelungen und Agrarumweltmaßnahmen intensivieren. Das heißt also: Wenn ich hier lockere, soll ich dort verschärfen. Das wir keineswegs einfach. Wir schauen uns die Entscheidung der Kommission nun genau an und ich werde dann pragmatisch entscheiden.
Was halten Sie davon, die geplante Stilllegung von vier Prozent der Ackerfläche auszusetzen?
Meine Einschätzung: Es gibt größere Hebel, um die Getreideproduktion in Europa zu steigern, etwa die einmalige Aussetzung der Fruchtwechsel-Regelung, wofür ich mich bei der Kommission erfolgreich eingesetzt habe. Wenn wir hier lockern, sprich: den Anbau von Weizen auf Weizen erlauben, dann können wir bis zu 3,4 Millionen Tonnen mehr an Weizen ernten. Allein in Deutschland wohlgemerkt.
Zum Vergleich: Legen wir vier Prozent der Ackerflächen doch nicht still, dann würden in der gesamten europäischen Union nach wissenschaftlichen Berechnungen nur bis zu 5,3 Millionen Tonnen mehr Weizen zur Verfügung stehen. Dem gegenüber stehen die Kosten für die Umwelt und Biodiversität. Mein Ministerium prüft nun genau Nutzen und Kosten der Ausnahmeregelungen unter Berücksichtigung der Umweltaspekte, so wie es die EU-Kommission vorsieht. Und dann gibt es überhaupt noch deutlich größere Hebel, die Brüssel aber leider nicht gezogen hat.
Nämlich?
Schauen wir doch nur mal, für was die Ackerfläche in Deutschland derzeit verwendet wird. Auf 14 Prozent der Ackerflächen in Deutschland werden Pflanzen angebaut, die am Ende im Autotank landen. Es gibt gerade keinen guten Grund für Getreide im Tank. Das muss runtergefahren werden. Global gesehen könnten wir den Ausfall der Ukraine als Getreidelieferant so mehrfach ausgleichen.
Und: Reduzieren wir in Deutschland die Tierbestände maßvoll, dann müssen wir nicht mehr auf 60 Prozent der Anbaufläche für Getreide Futtermittel anbauen. Ich will, dass wir uns mehr damit beschäftigen, wie wir effizienter mit dem umgehen, was wir ernten. Da sind große Potenziale, die wir nutzen müssen, und zu denen ich aus Brüssel Vorschläge erwarte.