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Biden in der UkraineMachtdemonstration in Kiew

Lesezeit 7 Minuten
Joe Biden (l), Präsident der USA, geht neben Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, an der Kathedrale mit der goldenen Kuppel von St. Michael (Kiew, Ukraine). Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen ist US-Präsident Joe Biden am 20.02.2023 zu einem Besuch in der Ukraine eingetroffen.

Bildgewaltiges Treffen: Der Besuch von Joe Biden und sein Rundgang durch Kiew mit Wolodymyr Selenskyj sollten auch ein deutliches Signal an den Kreml senden.

US-Präsident Joe Biden hat wenige Tage vor dem Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine dem Land unerwartet einen Besuch abgestattet – Eine große Geste für die Ukraine und ein deutliches Zeichen für Kremlchef Wladimir Putin.

US-Präsident Joe Biden steht mitten in Kiew. Neben ihm der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj. Die Sonne scheint, Biden trägt seine Piloten-Sonnenbrille. Zeitweise dröhnt über ihnen Luftalarm in der ukrainischen Hauptstadt an diesem denkwürdigen Montag. Selenskyj spricht von einer „historischen“ und „mutigen“ Visite, als er seinen Amtskollegen aus den USA auf dem roten Teppich im Präsidentenpalast begrüßt. Stolz lächelt der 45-Jährige an der Seite seiner Ehefrau Olena Selenska. Kurz vor dem Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine stattet Biden dem Land einen überraschenden und dramatischen Blitzbesuch ab, der eine wichtige Botschaft an die Ukraine und die Welt sendet, aber auch an den russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Ein Jahr danach hält Kiew stand. Und die Ukraine hält stand.
Joe Biden, US-Präsident

Am frühen Montagmorgen trifft Biden in Kiew ein, erst gegen Mittag verlässt er die Millionenmetropole wieder. In den paar Stunden dazwischen besucht der 80-Jährige neben dem Präsidentenpalast das weltberühmte Michaelskloster, läuft im dunklen Mantel und mit einer Krawatte in den ukrainischen Nationalfarben Blau-Gelb an Selenskyjs Seite an Heiligenbildern vorbei – direkt im Herzen der Stadt. An den Mauern des Klosters sind auch Fotos gefallener Soldaten mit Namen und Lebensdaten zu sehen. Es sind Hunderte.

Bidens Name wird verewigt

„Putin dachte, dass die Ukraine schwach und der Westen gespalten ist. Er dachte, dass er uns überrumpeln könnte“, sagt Biden. „Ich glaube nicht, dass er das noch denkt.“ Die westlichen Verbündeten hätten Kiew bereits 700 Panzer, Tausende Schützenpanzer und Artilleriesysteme und knapp zwei Millionen Artilleriegeschosse geliefert, zählt er auf. Und kündigt noch mehr Nachschub an.

Auf einer Gedenkplatte auf dem Parlamentsvorplatz wird Bidens Name verewigt – wie zuvor schon der von Polens Präsident Andrzej Duda und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Eine besondere Ehre. Nur wenige schaffen es auf die „Allee des Mutes“. Weder Bundeskanzler Olaf Scholz noch der französische Präsident Emmanuel Macron, die bereits im Juni nach Kiew reisten, wurden auf diese Weise gewürdigt.

Die Vereinigten Staaten sind Kiews mächtigster Verbündeter. Die Amerikaner haben der Ukraine seit Kriegsbeginn allein Waffen und Munition im Umfang von fast 30 Milliarden US-Dollar zugesagt. Dazu kommt humanitäre und wirtschaftliche Hilfe. Biden bringt neue finanzielle Zusagen mit bei seinem Besuch in Kiew – und vor allem die Ansage: Wir werden euch weiter unterstützen, solange ihr uns braucht. Wir lassen euch nicht alleine. Biden hat dies schon oft gesagt, doch eindrucksvoller ist die Nachricht, wenn er sie mitten in Kiew persönlich an Selenskyj und die Ukrainer überbringt.

Kiew, das stolze Herz der Ukraine

Biden ließ lange mit seinem Besuch auf sich warten. In den vergangenen Monaten eilte ein europäischer Regierungschef nach dem anderen nach Kiew, mancher mehrfach. Biden schickte zwar mehrere hochrangige Regierungsmitglieder in die Ukraine – und seine Ehefrau. Nur er selbst reiste lange nicht hin. Zu groß die Sicherheitsrisiken, zu groß der logistische Kraftakt.

Der Besuch genau zu diesem Zeitpunkt hat dafür umso mehr Symbolkraft: Vier Tage vor dem düsteren Jahrestag des Kriegsbeginns und einen Tag, bevor sich Putin mit einer Rede an seine Nation wenden will, reist der Anführer des Westens mitten in das Kriegsland. Biden wählt nicht etwa einen etwas abgelegeneren, sichereren Ort nahe der Grenze zu Polen für seinen Besuch, sondern das stolze Herz der Ukraine: die Hauptstadt Kiew. Dass er hier gleich mehrere Stunden bleibt, mit Selenskyj gleich mehrere symbolträchtige Orte besucht, neben ihm, Seite an Seite, unter freiem Himmel durch die Stadt läuft, während Luftalarm tönt, ist eine echte Machtdemonstration gegenüber Putin. Auch wenn die russische Seite wenige Stunden vorher informiert wurde, wie Bidens Nationaler Sicherheitsberater, Jake Sullivan, verrät.

Starke Bilder, große Geste – eine Botschaft

Es sind starke Bilder für die Welt, es ist eine große Geste für die Ukraine – und eine unmissverständliche Botschaft an den Kremlchef: Sieh her, wir stehen zusammen, und wir haben keine Angst vor dir. Mehr Symbolik geht nicht.

Noch nie habe ein US-Präsident ein aktuelles Kriegsgebiet besucht, ohne dass – wie etwa im Irak oder in Afghanistan – auch eigenes Militär vor Ort ist, um den Besuch abzusichern, betont das Weiße Haus. Dies sei „beispiellos“. Vor dem Kriegsjahrestag sei es Biden wichtig gewesen, die Reise zu unternehmen, trotz der Gefahren.

Das Weiße Haus plante den Hochrisiko-Trip unter maximaler Geheimhaltung. Laut offiziellem Programm hätte Biden erst in der deutschen Nacht zu Dienstag nach Polen aufbrechen sollen. Stattdessen stahl sich der US-Präsident, der eigentlich rund um die Uhr unter Beobachtung steht, einen Tag früher davon, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfuhr.

Gigantisches Sicherheitsrisiko

Die US-Regierung hüllt sich zunächst in Schweigen, wie genau Biden nach Kiew gereist ist – wieder aus Gründen der Sicherheit. Die „New York Times“ schreibt, Biden sei in der Nacht zu Montag erst mit der Regierungsmaschine Air Force One nach Polen geflogen, dort in einen Zug gestiegen, wie so viele Staats- und Regierungschefs vor ihm, und knapp zehn Stunden quer durch die Ukraine bis in die Hauptstadt Kiew gefahren.

Den US-Präsidenten über derart viele Stunden auf ukrainischem Boden zu haben, ist ein gigantisches Sicherheitsrisiko – noch dazu ohne amerikanisches Militär im Land. Doch der Druck auf Biden war zuletzt gestiegen, selbst in die Ukraine zu reisen, nicht nur wegen der Besuche Dutzender anderer Staats- und Regierungschefs. Auch der ukrainische Präsident hatte in den vergangenen Wochen erhebliche Risiken auf sich genommen und inmitten des Krieges sein Land verlassen, um zu seinen wichtigsten Verbündeten zu reisen – wie im Dezember zu Biden ins Weiße Haus nach Washington. Der Gegenbesuch des US-Präsidenten ist nun ein Signal der Entschlossenheit des Westens und der Solidarität mit der Ukraine.

Und es ist nicht zuletzt ein Signal der Stärke eines US-Präsidenten, der kurz davor steht zu verkünden, ob er für eine zweite Amtszeit antritt und der wegen seines hohen Alters innenpolitisch unter Druck steht. Der Kiew-Besuch ist ein wichtiger Moment in Bidens Präsidentschaft. Noch vor einem Jahr hatte Selenskyj selbst mehrfach öffentliche Warnungen vor einem Angriff Russlands in den Wind geschlagen. Biden hingegen warnte immer wieder vor der Gefahr – und behielt auf bittere Weise Recht. Auch das schwingt mit bei diesem Besuch.

Eigentlich hatte Putin damit gedroht, auch Kiew einzunehmen. Aus den Vororten der Hauptstadt musste er aber schnell seine Truppen abziehen. Der Widerstand war zu groß. „Ein Jahr danach hält Kiew stand. Und die Ukraine hält stand“, sagt Biden. „Die Demokratie hält stand.“ (dpa)


Nawalny fordert Abzug aus Ukraine

Der inhaftierte Kremlgegner Alexej Nawalny hat den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine sowie eine unabhängige Untersuchung von Kriegsverbrechen und die Anerkennung der Grenzen der Ukraine von 1991 gefordert – also inklusive der bereits im Jahr 2014 von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim. In der Vergangenheit war Nawalny unter anderem von ukrainischen Aktivisten teils dafür kritisiert worden, dass er in ihren Augen die Einverleibung der Krim nicht klar genug verurteilte.

„Den Krieg fortzusetzen, ist nur hysterische Ohnmacht, ihn zu beenden, ein starker Schritt“, ließ Nawalny nun kurz vor dem ersten Jahrestag der russischen Invasion bei Twitter mitteilen. Dazu veröffentlichte das Team des im Straflager festgehaltenen Oppositionellen am Montag 15 Thesen. Der russische Präsident Wladimir Putin habe „unter lächerlichen Vorwänden einen ungerechten Angriffskrieg gegen die Ukraine entfesselt“, heißt es dort unter anderem. Die „wahren Gründe“ für den Krieg seien die politischen und wirtschaftlichen Probleme Russlands, Putins Wunsch, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, sowie seine „Besessenheit von seinem eigenen historischen Erbe“.

Die Kombination aus „aggressiver Kriegsführung, Korruption, unfähigen Generälen, schwacher Wirtschaft sowie Heldentum und hoher Motivation der Verteidiger“ könne aber nur zu einer Niederlage führen, meinte Nawalny. Nach Beendigung des Krieges müsse die Ukraine entschädigt werden – was nur mit einem Machtwechsel in Russland möglich sei. Dazu müssten das „Putin-Regime und seine Diktatur abgeschafft“ und eine parlamentarische Republik errichtet werden. Russland sollte ein Teil Europas sein und den „europäischen Weg der Entwicklung“ gehen, betonte Nawalny. (dpa)