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Baerbock in AnkaraNeuer Tonfall in der Türkei-Politik

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Großes Interesse am deutschen Gast: Annalena Baerbock (r.) nach ihrem Besuch bei einer Frauenrechtsorganisation in Ankara.

Istanbul – Wenn es nach den regierungsnahen Medien in der Türkei geht, dann war der Antrittsbesuch von Annalena Baerbock in der Türkei ein Fiasko für die Bundesaußenministerin und ein Triumph für Ankara. Amtskollege Mevlüt Cavusoglu habe die Deutsche abgewatscht, jubelte der Sender A-Haber. „Führt euch bloß nicht auf wie die Oberlehrer“, riet die Zeitung „Hürriyet“ allen europäischen Ministern in Anspielung auf Baerbocks Auftritt: Cavusoglu lasse sich nichts gefallen.

Doch tatsächlich läutete Baerbock mit ihrer Visite eine neue deutsche Türkei-Politik ein. Sie kritisierte öffentlich die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan und sprach mit Oppositionellen und Frauenrechtlerinnen – bisher war Berlin darauf bedacht gewesen, Erdogan nicht zu verärgern. Für die Türkei endet mit diesem Besuch die Gewissheit, sich in Europa auf die Fürsprache Deutschlands verlassen zu können.

Schwere Vorwürfe an Berlin

Als Baerbock bei ihrer Pressekonferenz mit Cavusoglu die Politik gegenüber Griechenland, die Missachtung europäischer Regeln bei der Inhaftierung des Kulturförderers Osman Kavala und die Pläne für einen neuen Einmarsch nach Syrien kritisierte, traf sie einen Nerv. Die türkische Regierung sieht ihr Land als mächtigen internationalen Akteur, der sich keine Belehrungen anhören muss.

Dauerstreit um die griechischen Inseln: Worum geht es?

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Dauerstreit um die griechischen Inseln: Worum geht es?

Die Türkei erhebt keinen direkten Gebietsanspruch auf griechische Inseln in der Ägäis – sie wirft Athen aber vor, gegen die Auflagen zu verstoßen, unter denen es sie nach den Weltkriegen zugeschlagen bekommen hatte. Die türkische Regierung hat sich bei den UN über die Militarisierung der Inseln beschwert und droht dem Nachbarn sogar mit Krieg. Dass es so weit kommt, halten Experten aber für unwahrscheinlich.

Seine Beschwerden gründet Ankara auf den Vertrag von Lausanne von 1923 und den Vertrag von Paris von 1947. In Lausanne bekam Griechenland die Inseln Lesbos, Chios, Samos und Ikaria zugeschlagen, und in Paris trat Italien die Dodekanes-Inseln an Griechenland ab – die größte davon ist Rhodos. Weil die Inseln so nah am türkischen Festland liegen, wurde in den Verträgen festgehalten, dass sie entmilitarisiert werden sollten.

Doch Athen habe Militär auf den Inseln stationiert und damit gegen die Verträge verstoßen, klagt Ankara. Wenn Griechenland sich nicht an die Auflagen halte, stehe folglich die griechische Souveränität über die Inseln zur Debatte. Experten weisen allerdings darauf hin, dass dort schon seit Jahrzehnten Soldaten stationiert sind, ohne dass die Türkei sich bisher darüber beschwert hätte. Auf diese Weise revanchiere sich Ankara wohl eher für die griechischen Aufforderungen an westliche Bündnispartner, der Türkei keine neuen Rüstungsgüter zu verkaufen. (sugü)

Cavusoglu antwortete mit schweren Vorwürfen. Deutschland habe seine „ausgewogene“ Haltung im türkisch-griechischen Dauerstreit aufgegeben und gehe der griechischen Propaganda auf den Leim. Er meinte Baerbocks zuvor in Athen getätigte Äußerung, dass Deutschland im Streit um die Abgrenzung von Hoheitsgebieten in der Ägäis „solidarisch an der Seite Griechenlands“ stehe. Im Fall Kavala, der zum Rauswurf der Türkei aus dem Europarat führen kann, breitete Cavusoglu finstere Verschwörungstheorien aus: Deutschland setze andere Mitglieder unter Druck, um das Ausschlussverfahren gegen die Türkei voranzutreiben.

Einzelgespräche mit Oppositionsparteien

Noch im März hatte Kanzler Olaf Scholz in Ankara den Eindruck vermittelt, bei der traditionell zurückhaltenden Position Deutschlands bleiben zu wollen. Baerbock gab diese Linie auf. Nachdem sie sich mit Cavusoglu vor laufenden Kameras gestritten hatte, traf sie sich zu Einzelgesprächen mit den drei größten Oppositionsparteien, darunter der vom Verbot bedrohten pro-kurdischen HDP. Deren Co-Vorsitzender Mithat Sancar nannte das Gespräch „freundlich, konstruktiv und ergiebig“.

Baerbock lobt türkische Vermittlung im Ukraine-Konflikt

Nach Baerbocks Besuch ist Sancar zuversichtlich, dass es tatsächlich einen deutschen Kurswechsel geben wird. Schließlich habe die Grüne kritische Themen offen angesprochen. „Es war in dieser Art das erste Mal – frühere deutsche Außenminister waren da viel vorsichtiger und zurückhaltender.“

Baerbock will sich mit ihrer neuen Türkei-Politik aber offensichtlich nicht von einer Zusammenarbeit mit Ankara verabschieden. So lobte sie die türkische Vermittlung im Ukraine-Konflikt und sagte, Diplomaten aus Deutschland und der Türkei seien „gemeinsam vor Ort“, um den erwarteten ersten Getreide-Export zu beobachten.

Wie sich der neue Kurs in einer Krise bewährt, könnte sich bald zeigen. In den nächsten Tagen will Ankara nach längerer Pause wieder ein Erkundungsschiff für die Suche nach Erdgas ins Mittelmeer schicken. Vor zwei Jahren war der Streit um das Gas gefährlich eskaliert. Damals schaltete sich Kanzlerin Angela Merkel als Vermittlerin ein.