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Analyse nach 6 Monaten KriegWarum es in der Ukraine kaum mehr ein Vor und Zurück gibt

Lesezeit 5 Minuten
Natonalfeiertag in der Ukraine

Am 24. August begeht die Ukraine ihren Nationalfeiertag. 

Berlin – Pünktlich zum Stichtag 24. August, jenem Datum also, an dem der russische Angriff auf die Ukraine genau ein halbes Jahr her ist, appellieren Politiker der Bundesregierung an die „Opferbereitschaft“ der Bundesbürger, um Russlands Präsident Wladimir Putin mit seiner Großmachtpolitik nicht davonkommen zu lassen. Das ist bemerkenswert. Denn zwischen einer Warnung vor Wohlstandsverlust und der Aufforderung, Opfer zu bringen, liegen rhetorisch Welten. Es klingt, als bereite man die Menschen hierzulande auf weitere sechs Monate Krieg vor – mindestens.

Tatsächlich ist das Kalkül des Kremls, die Ukraine nach dem Überfall am 24. Februar gleichsam blitzkriegartig militärisch überrennen zu können, nicht aufgegangen. Schon nach kurzer Zeit war klar: Die „militärische Sonderoperation“, wie Präsident Wladimir Putin seine Lust auf territoriale Machtausdehnung nennt, verläuft schleppender und kostet mehr russische Soldaten das Leben als gedacht – von den getöteten Zivilisten, dem in der Ukraine angerichteten Leid und den von russischen Soldaten begangenen Kriegsverbrechen in Butscha gar nicht erst zu reden.

Gefährliche Dynamik

Die Gegenwehr der Ukrainer, mit einem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an der Spitze, der es öffentlichkeitswirksam versteht, rhetorisch alle Register zu ziehen, sorgt für Bewunderung – bis hin zur von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier geäußerten „Hochachtung zum Freiheitskampf“ anlässlich des ukrainischen Unabhängigkeitstages – ebenfalls am am 24. August. Mit der Beteuerung, nicht nur das eigene Volk zu verteidigen, sondern stellvertretend für die Freiheit Europas zu kämpfen, hat sich der ehemalige Komiker Selenskyj in die Herzen westlicher Politiker regiert.

Doch über die Monate hat der Krieg eine gefährliche Dynamik entwickelt: Sowohl Moskau als auch Kiew sind fest entschlossen, den Gegner zu besiegen, um politische Ziele zu erreichen. Infolgedessen hat jede Seite starke Anreize, Wege zu finden, um den Krieg zu gewinnen und – was wohl noch wichtiger ist – ihn nicht zu verlieren. So gibt es militärisch kaum mehr ein Vor und Zurück, die Gegner verharren im Stellungskrieg.

Abgesehen von Ausnahmen, scheinen sich westliche Politiker und weite Teile der Öffentlichkeit einig zu sein, dass sich der Konflikt in einer Art Patt auf längere Sicht einpendelt, was schließlich dazu führt, dass ein geschwächtes Russland ein Friedensabkommen akzeptiert, das die Ukraine begünstigt. Voraussetzung dafür seien anhaltende, vielleicht gar auszuweitende Lieferungen modernster Waffen und Munition sowie ein Erfolg der verhängten Sanktionen. Deren Nebenwirkungen machen allerdings auch den westlichen Wirtschaften zu schaffen – zumal Moskau im Gegenzug seine Gaslieferungen drastisch reduziert hat.

Auch der Westen trägt ein hohes Risiko

Die Politik des Westens ist vor allem darauf ausgelegt, den Preis des Krieges für Russland derart hoch zu treiben, dass sich der Kreml irgendwann gezwungen sieht, einzulenken; das freilich ist auch mit enormen Risiken für den Westen verbunden. Kritiker dieser Linie, wie Johannes Varwick, Professor für Internationale Politik an der Universität Halle, fürchten, dass die Rechnung nicht aufgeht. „Die Lieferung von Waffen verlängert den Krieg nur“, wird Varwick seit Monaten nicht müde öffentlich zu betonen. Die Ukraine werde verheizt. Eher werde Putin die Lage nuklear eskalieren, denn als Verlierer vom Schlachtfeld zu gehen. Ein Waffenstillstand respektive Friedensschluss sei nur auf dem Verhandlungswege denkbar.

Wie viel Prozent ihres Territoriums müsste die Ukraine dann aber für eine Lösung abgeben, die für Russland akzeptabel wäre? Und welche Garantie gäbe es, dass Moskau mittelfristig nicht neue Ziele ins Visier nimmt, die baltischen Staaten etwa, wo russische Minderheiten von nicht unerheblicher Größenordnung leben? Und bedeutete eine solche Lösung nicht nur, den Konflikt einzufrieren, ähnlich der Realität zwischen Nord- und Südkorea? Zumindest das Blutvergießen hätte dann vorerst ein Ende. Noch sind die einander bekämpfenden Armeen nicht ausgelaugt genug, als dass ihre obersten Befehlshaber bereit wären, ernsthaft über das Ende des Krieges zu sprechen. Ohnehin sind Verhandlungen über eine Waffenruhe wohl erst möglich, wenn Moskau und Kiew vom Ziel eines Sieges Abstand nehmen.

Selenskyj will aber russisch besetzte Gebiete einschließlich der Krim-Halbinsel ausdrücklich zurückerobern. Und Putin denkt nicht daran, die territorialen Ansprüche vor allem in der Ostukraine, wenn nicht gar die weitgehende Unterwerfung des Nachbarn aufzugeben. Beide Präsidenten haben sich in eine Lage manövriert, aus der es ohne Gesichtsverlust bei der eigenen Bevölkerung schwerlich einen Ausweg geben dürfte.

Der russische Überfall auf die Ukraine hat eine sicherheitspolitische „Zeitenwende“ ausgelöst, wie man sie nicht mehr für möglich gehalten hatte. In der Folge hat die Nato zu neuer Einigkeit gefunden und demnächst sogar zwei Neumitglieder zu verzeichnen: Schweden und Finnland.

Leopard-Kampfpanzer für die Slowakei

Der deutsch-slowakische Panzer-Ringtausch kommt nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums voran: Am Dienstag unterzeichnete Rüstungsstaatssekretär Benedikt Zimmer gemeinsam mit seinem slowakischen Amtskollegen die Absichtserklärung. Geplant ist eine Lieferung von 15 Kampfpanzern aus den Beständen der deutschen Rüstungsindustrie, wie das Ministerium mitteilte. Der erste Kampfpanzer soll demnach noch in diesem Jahr das slowakische Heer erreichen. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) konnte den Termin laut Ministerium „coronabedingt“ nicht selbst wahrnehmen. „Die Slowakei wird schnellstmöglich Schützenpanzer an die Ukraine abgeben, mit denen sich die Soldatinnen und Soldaten dort bereits auskennen und die unverzüglich bei der Verteidigung des Landes gegen Russland eingesetzt werden können“, erklärte Lambrecht.(afp)

Die östlichen Länder der transatlantischen Verteidigungsallianz werden massiv aufgerüstet, die USA stationieren Tausende zusätzliche Soldaten im Baltikum und anderen Staaten. Und Deutschland steckt 100 Milliarden Euro in die Modernisierung der Bundeswehr. Putins Einmarschbefehl ins Nachbarland kommt also auch Deutschland teuer zu stehen.

Infolge der immer drastischer steigenden Kosten infolge des Krieges für die Menschen im Alltag hat sich die öffentliche Wahrnehmung des Ukraine-Krieges hierzulande verändert. Ging es nach Ausbruch vor allem darum, das Geschehen vor Ort und die Hintergründe des Konflikts zu verstehen, stehen nunmehr die ökonomischen Weiterungen für die Menschen in Deutschland und deren Alltag im Mittelpunkt.

Wird also die Bereitschaft zu immer neuen Opfern einer wachsenden Kriegsmüdigkeit weichen? Herbst und Winter werden es zeigen.