AboAbonnieren

Putins alternative Fakten nach dem „Crocus“-AttentatWarum foltert Russland so demonstrativ?

Ein Kommentar von
Lesezeit 2 Minuten
24.03.2024, Russland, Moskau: Ein Tatverdächtiger des Terroranschlags auf die Konzerthalle Crocus City Hall sitzt in einem Glaskäfig im Bezirksgericht Basmanny. Ein Gericht in Moskau hat am Sonntagabend die ersten Haftbefehle gegen mutmaßliche Akteure des blutigen Terroranschlags auf eine Konzerthalle nordwestlich der russischen Hauptstadt erlassen. Foto: Alexander Zemlianichenko/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Spuren von Schlägen im Gesicht, Plastiktüte um den Hals: Ein Verdächtiger im Bezirksgericht Basmanny.

Warum zeigen die russischen Behörden öffentlich, dass die mutmaßlichen Attentäter aus der „Crocus“-Halle gefoltert wurden? Warum erwecken sie nicht einmal den Anschein eines regulären Verfahrens?

Es sind unfassbare Szenen, die die russische Justiz nach dem verheerenden Anschlag von Krasnogorsk vorführt. Erst Folter vor der Kamera, dann die Vorführung der mutmaßlichen Attentäter – man darf wohl davon ausgehen, dass sie es wirklich sind – vor Gericht: Alle vier gezeichnet von schweren Misshandlungen, einer noch mit einer Plastiktüte um den Hals, der andere – ihm wurde ein Ohr abgeschnitten – mit notdürftig verbundenem Kopf, ein dritter bewusstlos und mit aufgerissenem Hemd im Rollstuhl.

Was soll das bewirken? Gewiss wollen die Sicherheitsbehörden den russischen Bürgern zeigen, wie hart sie durchgreifen können. Die Demütigung der angeblich aus Tadschikistan stammenden Verdächtigen soll über das Versagen der Behörden hinwegtäuschen, die anderthalb Stunden bis zum Eingreifen in der „Crocus“-Halle brauchten und die mutmaßlichen Täter dann zunächst per Pkw bis in die Nähe der belarussischen und ukrainischen Grenzen entkommen ließen – wenn die Darstellung über die Festnahme denn stimmt. Begleitet wird die widerwärtige Vorführung durch Hassbotschaften gegen Angehörige nationaler Minderheiten.

Putins Ermittler und Richter demonstrieren bewusst, dass ihre Erkenntnisse vollkommen beliebig sind. Sie können jedes gewünschte Urteil liefern so wie Hexenrichter in der Frühen Neuzeit.

Aber die öffentliche Misshandlung hat noch einen weiteren Sinn. Dass Russland ein Folterstaat mit gelenkter Justiz ist, ist allgemein bekannt – dennoch versuchte man bisher, den Eindruck formal korrekter gerichtlicher Verfahren mit unabhängiger Tatsachenfeststellung zu erwecken. Das ist vorbei. Die russische Justiz zeigt ungeniert, dass die Geständnisse von drei der vier Beschuldigten unter Folter erzwungen wurden. Sie sind sachlich wertlos. Putins Ermittler und Richter demonstrieren bewusst, dass ihre Erkenntnisse vollkommen beliebig sind. Sie können jedes gewünschte Urteil liefern, so wie Inquisitoren in der Frühen Neuzeit.

Das passt ins Bild der frei erfundenen Vorwände, mit denen Staatschef Wladimir Putin seine Kriegszüge begründet. Ins Bild der Wahl-Farce. Der sadistischen Fiktionen im Staatsfernsehen. Der Staat beweist seine Macht, indem seine Vertreter ostentativ lügen. Es gibt keine Tatsachen, sondern nur staatliche Behauptungen. Was man nicht freiwillig bekennt, wird herbeigefoltert.

Putin hat mit den Mitteln eines Diktators vollbracht, was Donald Trump mit seinen „alternativen Fakten“ in einer – noch – demokratisch verfassten Gesellschaft versucht: Er hat die Wahrheit abgeschafft. Wie gut das funktioniert, sieht man an deutschen Politikern, die über eine unklare Faktenlage bramarbasieren. Genau diese Unklarheit, die wüste Verdächtigungen beispielsweise gegen die Ukraine erlaubt, ist in Putins Sinne. Dass nichts objektivierbar ist und man deshalb allein ihm zu glauben hat, ist sein Herrschaftsprinzip.