Alltag im KriegVom Mut der Menschen, die in der Ukraine zurückbleiben
Schluchzend küsst Sergej Dondukow das blutverschmierte geschwollene Gesicht seines toten Bruders, Sergejs Frau Galina gibt ihm ein Kreuz mit ins Grab. „Igor hatte sich zu Beginn der Invasion zur Armee gemeldet, zum Schutz unseres Vaterlandes“, sagt Dondukow über seinen jüngeren Bruder. Am Freitag wurde er zusammen mit Dutzenden weiteren Soldaten bei einem russischen Angriff auf eine Kaserne nördlich von Mykolajiw getötet.
Auf dem Friedhof steckt eine Rakete senkrecht auf dem Teerweg zwischen den Gräbern, während der Beerdigung ist in der Ferne Artilleriefeuer zu hören. Der Krieg und die Gefahr sind in der südukrainischen Stadt allgegenwärtig. Dennoch will die Familie auch nach Igors Tod in Mykolajiw bleiben. „Wir haben keinen Ort, an den wir gehen könnten und keine Familie im Ausland“, sagt Galina Dondukow.
Ein Großteil der Einwohner ist geflohen, aber nicht alle
Mykolajiw unweit des Schwarzen Meeres ist für Russland strategisch wichtig, um auf dem Landweg die Hafenstadt Odessa zu erreichen. Ein Großteil der 500.000 Einwohner ist inzwischen geflohen, viele von ihnen ins 130 Kilometer westlich gelegene Odessa. Die Zurückgebliebenen sind fest entschlossen auszuharren.
Am Montagnachmittag traf ein Luftangriff ein Gebäude, in dem sich ein Hotel und eine Bank befanden, wie Anwohner berichten. Einige Hundert Meter entfernt sammelt Anatoly Jakunin in aller Ruhe Trümmer und Glassplitter ein. „Wozu weggehen?“, fragt der 79-Jährige und zeigt beim Lächeln seine Goldzähne. „Ich habe hier vier Enkelkinder, eines davon im Krieg, wie könnte ich sie zurücklassen?“
Die Mutter aus der Wohnung gerettet
Im Stadtteil Kulbakino mit seinen großen Wohnblöcken seien von den 12.000 Menschen keine Tausend mehr da, sagt Alexander Sadera und berichtet, wie er seine 80 Jahre alte Mutter nach einem Luftangriff am 7. März aus ihrer Wohnung rettete. Auch hier ist die Front zu hören. „Wir haben uns an diese Hintergrundgeräusche gewöhnt, auch beim Essen“, lacht der ehemalige Oberst der Luftwaffe. „Mittlerweile kann sogar meine Mutter den Klang der verschiedenen Schüsse und Einschläge unterscheiden.“
Im Keller des Gebäudes haben sich die Bewohner für das Leben unter Beschuss eingerichtet. Im hinteren Teil des Schutzraums liegt zwischen zwei Matratzen ein Backgammon-Spiel. Im Hauptraum trinkt die Lehrerin Inna Kurij mit Freundinnen und Nachbarinnen Tee bei Kerzenschein. „Hier verbringen wir unsere Abende und beten für unsere Soldaten und unser Heimatland“, sagt die Lehrerin. Tagsüber arbeitet sie weiter und versucht, ihre geflohenen Schüler aus der Ferne zu unterrichten. „Viele Leute haben die Stadt verlassen, weil sie Kinder oder Verwandte haben“, sagt Kurij. „Wir werden bis zum Ende hier bleiben. Wir werden unser Land an niemanden abtreten, wir Ukrainer sind geduldige Menschen.“
Selenskyj ruft Putin zu neuen Verhandlungen auf
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den russischen Staatschef Wladimir Putin unterdessen erneut zu direkten Verhandlungen aufgerufen. Bei einem Treffen mit Putin sei er bereit, auch über den Status der von Russland annektierten Krim und der Separatisten-Gebiete im Donbass zu sprechen, sagte Selenskyj. Zugleich forderte er „Sicherheitsgarantien“ und kündigte an, dass die Ukrainer über jegliches Abkommen mit Moskau, das „historische“ Veränderungen mit sich bringe, per Referendum abstimmen müssten.
Selenskyj schlug Papst Franziskus als Vermittler im Konflikt vor. Er habe ihm bei einem Telefonat „die schwierige humanitäre Situation und die Blockade von Fluchtkorridoren durch russische Truppen“ in seinem Land geschildert, so Selenskyj. „Wir würden eine Vermittler-Rolle des Heiligen Stuhls schätzen, um das menschliche Leid zu beenden.“ Die Frau des ukrainischen Staatschefs, Olena Selenska, appelierte an die Solidarität der Mütter russischer Soldaten. „Eure Söhne töten Zivilisten in der Ukraine. [...] Putin hat Euch eine Entschädigung für die Toten versprochen, aber wie lässt sich der Tod eines Kindes entschädigen?“, sagte sie in einem Interview mit der Zeitung „Le Parisien“. Die russischen Soldaten seien nicht für eine „Spezialoperation“ in die Ukraine gekommen. „Sie sind gekommen, um ein Volk auszulöschen“, betonte sie.
Im Südwesten ist von Krieg nur wenig zu spüren
Die Frau von Präsident Selenskyj bemüht sich derzeit, krebskranke Kinder aus der Ukraine in Sicherheit zu bringen. Eine Gruppe junger Patienten landete am Dienstag in Paris. Dabei hatte auch die Frau des französischen Präsidenten, Brigitte Macron, geholfen.
Im Südwesten der Ukraine, in den Ausläufern der Karpaten ist der Krieg derzeit scheinbar noch fern. Rund um den Kurort Schidnyzja, der für sein Mineralwasser bekannt ist, treten sportlich gekleidete Radfahrer in die Pedale. Auch Jogger sind unterwegs. Vor Souvenirständen stehen Familien, die zu anderen Zeiten normale Touristen wären, jetzt aber Flüchtlinge sind. Ungeachtet der Flüchtlingsströme und der schrecklichen Bilder aus den umkämpften Städten im Norden und Osten ist ein Großteil der Ukraine vom Krieg bisher unberührt.
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Nach der Einreise fällt sogleich auf, dass an den Tankstellen der Sprit knapp geworden ist. Viele haben nur noch Diesel - wenn überhaupt. An einer anderen Tankstelle an einer großen Europastraße in Richtung Karpaten stehen die Leute in einer langen Schlange für Flüssiggas an. Superbenzin wird mit 20 Liter pro Auto rationiert. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal hat seinen Landsleuten aber versprochen, dass sich die Situation bessern werde. Bei Kriegsbeginn vor jetzt schon fast einem Monat fiel der Kraftstoff aus dem Nachbarland Belarus weg, Russlands Verbündetem. Nun sind neue Lieferketten aus der EU im Aufbau. (afp/dpa)
Ohne Heizung, Strom und Wasser
In Hanna Kotelnykowas Facebook-Timeline dauert der Weg zurück in ein friedliches Mariupol nur ein paar Sekunden: Am 22. Februar postet sie dort Bilder von einer Kundgebung für den Frieden und für die Ukraine. Hunderte, vielleicht Tausende Menschen haben sich mit blau-gelben Flaggen vor dem Theater der Stadt versammelt. Zwei Tage später – den Frieden gibt es da schon nicht mehr – läuft Kotelnykowa abends mit ihrem Hund über den fast menschenleeren Theatervorplatz. Ein paar Stunden zuvor hat Putin ihrem Land den Krieg erklärt. Noch sei es in Mariupol ruhig, sagt sie im Video. Ein paar Einträge später gibt es auch die Ruhe in der Stadt nicht mehr. Der Krieg ist da.
Kotelnykowa (56, Bild) ist Ärztin. Ihr ganzes Leben hat sie in Mariupol gelebt, ihre Eltern stammen von da. Am 15. März hat sie sie ins Auto gesetzt und mit ihnen die Stadt verlassen. „Es war schwer. Meine Eltern haben gesagt, sie wollen lieber in ihrem Mariupol sterben.“
Die ukrainische Online-Zeitung „Ukrainska Pravda“ hat vor einigen Tagen ein paar Tagebuchsequenzen von Kotelnykowa veröffentlicht. Sie schildert darin, wie der Krieg in die Stadt kommt. Auf Anfrage unserer Redaktion ist sie sofort zu einem Gespräch bereit: „Schreiben Sie alles auf, erzählen Sie allen, wie das Putin-Regime Verbrechen gegen die Menschheit begeht.“
Auf ihrer Facebook-Seite dokumentieren kurze Nachrichten, wie sich die Lage um Mariupol langsam zuspitzt. Am 1. März teilt Kotelnykowa ein Bild aus Mariupol und paar kurze Worte. Es ist ihre letzte Nachricht für mehr als zwei Wochen. Der Belagerungsring um die Stadt schließt sich.
Zunächst habe es noch eine gewisse Normalität gegeben, schildert sie. Irgendwann habe die Heizung nicht mehr funktioniert. Dann sei der Strom ausgefallen, dann die Wasserversorgung. Die Stadtverwaltung begann, Leichen in Massengräbern zu bestatten. Angesichts der immer katastrophaleren Lage entschließt sich Kotelnykowa in der ersten Märzhälfte, die Stadt zu verlassen. Doch der Versuch schlägt fehl. Schließlich gelingt die Flucht – am 15. März können sie nach Norden fahren. Mittlerweile hat Kotelnykowa in der Wohnung einer Freundin in Dnipro Unterschlupf gefunden. (mpoe)