Zu ihrem 60. Geburtstag wird die Musikerin Tracy Chapman von einer neuen Generation Fans entdeckt.
60. GeburtstagWarum die Lieder von Tracy Chapman zeitlos sind
Es ist der Nachmittag des 11. Juni 1988, als eine junge schwarze Frau die Bühne im Wembley Stadium betritt. Das Who-is-who der Popmusik ist hier zusammengekommen, um zu Nelson Mandelas 70. Geburtstag dessen Freilassung zu fordern: Sting, George Michael, Whitney Houston, Peter Gabriel, Bands wie die Eurythmics, Simple Minds oder Bee Gees — und die zu diesem Zeitpunkt praktisch unbekannte Tracy Chapman.
Vor zwei Monaten ist ihr erstes Album herausgekommen, nun steht sie in der riesigen, komplett ausverkauften Arena: mit kurzen Dreadlocks und im schlabbrigen Sweatshirt, eine Akustikgitarre umgehängt beginnt sie zu singen – von Babys, die hungern, obwohl es auf der Welt genug Nahrung gibt („Why“). Von den Abgehängten auf den Stufen der Heilsarmeen, die flüsternd eine Revolution heraufbeschwören („Talkin' about a revolution“).
Ihr eindringlicher Vortrag bringt das Publikum, das eben noch zu Natalie Coles Hit „Pink Cadillac“ gefeiert hat, dazu, aufmerksam zuzuhören. Als die 24-Jährige dann auch noch den Mut beweist, „Behind the walls“, das Lied über häusliche Gewalt, a cappella zu singen, und später spontan einspringt, als Stevie Wonder sich wegen technischer Probleme zunächst weigert aufzutreten, legt sie damit den Grundstein für ihre Karriere. Das Debütalbum verkauft sich in der Folge insgesamt um die 20 Millionen mal.
36 Jahre später, ein paar Wochen vor ihrem 60. Geburtstag am 30. März, gelingt ihr wieder ein Überraschungsauftritt: Bei der Grammy-Verleihung im Februar singt sie ihr Lied „Fast car“ – zusammen mit dem Country-Sänger Luke Combs, der es im vergangenen Jahr neu aufgenommen hatte. In der sehr weißen Country-Szene wurde Tracy Chapman damit die erste Schwarze, deren Solokomposition Platz eins der Country-Charts erreicht und die einen Country Music Association Award für den besten Song des Jahres gewinnt.
Und dann steht sie da bei der Grammy-Verleihung, ein wenig schüchtern angesichts von Stars wie Taylor Swift, die Dreadlocks sind mittlerweile lang und silbergrau. Aber ihr Auftritt fasziniert einmal mehr und führt dazu, dass ihr erstes Album von einer neuen Generation entdeckt wird.
Zwischen Synthie-Gewimmer und aufgetürmten Gel-Frisuren der 80er Jahre wirkten Tracy Chapman und ihre Platte wie ein Fremdkörper, eine Nachfahrin von Joan Baez oder Muddy Waters, die will, dass die in ihren Liedern vertretenen Positionen im Mittelpunkt stehen.
Die Reduktion auf das musikalisch Wesentliche prägt die elf ersten Lieder, und das Resultat ist bis heute zeitlos. Keine Mätzchen, keine Schnörkel, kein modischer Musik-Firlefanz – und in Kombination mit exzellentem Handwerk und einem Füllhorn an Ideen. Diese Musik klingt so frisch, dass man selbst beim wiederholten Hören verblüfft ist.
Und ihre Themen sind immer noch virulent: Benachteiligung von Schwarzen („Across the lines“), Verschwendungssucht („Mountains o' things“), soziale Missstände („She's got her ticket“) oder die Verzweiflung über ein aussichtsloses Dasein.
So träumt die Erzählerin in „Fast car“ davon, dass ihr Freund sie mit seinem schnellen Auto an einen Ort bringt, an dem sie endlich erfahren könnte, was Leben bedeutet. Denn bis jetzt ist sie nur ein Mädchen, das die Schule abbrechen musste, um sich um ihren Alkoholiker-Vater zu kümmern. Auf dem Beifahrersitz habe sie zum ersten Mal das Gefühl, „ich könnte jemand sein“. Und am Ende steht nur die Entscheidung, entweder heute Nacht fortzugehen oder in dieser Trostlosigkeit irgendwann zu sterben.
Vorreiterin für Tori Amos und Alanis Morissette
Solche Sozial-Dramen kennt man in der US-Popmusik, etwa von Bruce Springsteen, der in „The river“ (1980) ähnliche düstere Bilder beschwört. Doch aus der Sicht einer jungen Schwarzen wird daraus noch einmal ein ganz anderer Schuh. Damit wird sie gleichermaßen zur Vorreiterin einer Welle von Singer-Songwriterinnen wie Tori Amos oder Alanis Morissette, die in den 90ern ihren Höhepunkt erreicht.
Doch was ist zwischen 1988 und 2024 geschehen? Tracy Chapman hat sieben weitere Alben aufgenommen, das bisher letzte erschien 2008. An den Erfolg des Erstlings konnten diese Platten nicht anknüpfen, an dessen Qualität allemal. Danach taucht sie mehr oder minder ab, tritt mal hier oder dort auf, unter anderem singt sie zusammen mit Luciano Pavarotti ihr „Baby, can I hold you“.
Das klingt nach einem schlimmen Cross-over, doch wenn man sich den Auftritt bei Youtube anschaut und sieht, wie sie zu strahlen beginnt, als der Tenor die ersten Töne seines Einsatzes anstimmt, meint man ihre Gedanken lesen zu können: „Ich habe alles richtig gemacht.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.