Von Paris bis Pankow, von angebracht bis albern: Immer wieder fanden sich auch 2024 Gründe und Gelegenheiten für kulturelle Diskussionen.
Von Paris bis PankowDer Kultur-Rückblick auf das Jahr 2024
Er trägt gelben Bart und Blütenkrone, glänzt himmelblau am ganzen Körper, fläzt sich genüsslich im Blumenbett. Doch wer ist dieses blaue Wunder ungehemmter Genusskultur? Den Künstler Philippe Katerine kennen nicht alle. Aber sein Auftritt bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele von Paris triggert die Konservativen.
Ein queeres Abendmahl, rubriziert rasch die katholische Kirche. Donald Trump, designierter US-Präsident, und Rechtspopulisten vieler Länder schäumen. Queer, trans, womöglich noch woke? Skandal!
Vermeintliches Abendmahl
Welches Ereignis war das Kultur-Highlight des Jahres 2024? Die Wahl ist klar: Das zugleich größte Sportevent, die Eröffnung der Olympischen Spiele von Paris am 26. Juli. Die grandiose Gala mit diesem Traum aller Städte als Bühne gelingt als Coup der Kultur. Von Mona Lisa bis zur Rapperin Aya Nakamura spannt sich der Bogen kultureller Anspielungen und Verweise.
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Das vermeintliche Abendmahl – eigentlich war es einem Festmahl antiker Götter nachempfunden – setzt diesem Feuerwerk der Bilder die glänzende Krone auf. Die einen jubeln, die anderen geifern.
Suppenattacke auf die Mona Lisa
Mag manche Sportart als angeblich schönste Nebensache der Welt gelten, die Kultur ist das nie. Sie ist das Hauptstück des gesellschaftlichen Lebens, sie firmiert und funktioniert als dessen Sinnprogramm und Themenrepertoire. Der Beleg: Auch im Jahr 2024 lieferte Kultur Stoff für heftige Kontroversen.
Ein Beispiel: Anfang des Jahres schleuderten Klimaaktivistinnen Suppe gegen die „Mona Lisa“. Das berühmteste Bild der Welt schien für die Aktivistinnen doppelt attraktiv zu sein, als Symbol einer verhassten Gesellschaft und als Garant für Publicity.
Was vermag Kultur? Donald Trump zitterte über Monate vor Taylor Swift. Der Megastar durchbrach 2024 die Schallmauer, als erste Künstlerin, die mit ihrer Musik zur Milliardärin wurde. Im Wahlkampf positionierte sie sich klar – für die Demokratin Kamala Harris, gegen Trump. Swift schien die Kraft zu haben, selbst politische Megatrends zu wenden. Das sagte nicht allein etwas über Swift und andere Stars, das sagte auch etwas über den Einfluss der Kultur selbst (auch wenn Swift letztens Endes die US-Wahl nicht beeinflussen konnte).
Was ist Kultur am Ende? Ein Ensemble von Merkmalen, die Zugehörigkeit definieren und Angrenzung garantieren? Oder ein Netz fluider Codes, die Anschlussfähigkeit adressieren und Verbindungen produzieren?
Angriffe von Links und von Rechts
Kultur als Ort freundlicher Aushandlung: Das ist das Lieblingsmodell vieler Akteure des Kulturbetriebs selbst, aber nicht die Wirklichkeit der Kultur. Als besseres Gegenbild der Gesellschaft wäre sie verniedlicht. In Wirklichkeit hat sie sich in ein Gefechtsfeld verwandelt, auf dem um Definitionsmacht gestritten wird. Links- und Rechtspopulisten haben das längst und leider erfolgreich verinnerlicht.
In und mit Kultur geht es um die nächste Gesellschaft. Das Design ihrer Zukunft entscheidet sich vor allem über kulturelle und nur zum Teil materielle Fragen. Deshalb hat sich die Kultur in den letzten Jahren verwandelt, von der Aushandlungsarena zum Kampfplatz.
Gekürzte Kulturbudgets
Das darf auch wörtlich verstanden werden. Die massiven Kürzungen an den Kulturbudgets in Berlin und Köln sind nur der Auftakt einer ganzen Welle von Streichungen in Ländern und Kommunen. Welche Kultur soll es sein? Diese Frage wird anstehende Verteilungskämpfe prägen.
Im Kontrast dazu wirkt es geradezu ermutigend, dass Kultur weiterhin als Raum der gemeinsamen Reflexion ihre Stärke beweist. Die Kulturjubiläen des Jahres haben das belegt. Rund eine Millionen Menschen haben die Gemälde und Zeichnungen Caspar David Friedrichs in Hamburg, Berlin und Dresden gesehen.
Starke Resonanz auf Jubilare
Ein Künstler der Romantik als Spiegel einer gemeinsamen Erinnerung für Deutsche in Ost und West? Eine berührende Lesart, eine Erinnerung zugleich daran, wie Kultur und als ihr Zentrum die Künste Gedächtnis zu strukturieren vermögen.
Viele Leser haben zugleich mit Thomas Manns vor einhundert Jahren publiziertem Roman „Der Zauberberg“ über die Bilanz der Moderne nachgedacht oder über ihre Abgründe mit dem Blick auf Leben und Werk Franz Kafkas reflektiert. Der Autor von Romanen wie „Der Prozeß“ und „Das Schloß“ starb vor einhundert Jahren. Jahrestage bedeuten offenbar mehr als Einträge im Kalender.
Die starke Resonanz auf Caspar David Friedrich, Thomas Mann oder Franz Kafka hat 2024 gezeigt, dass viele Menschen den Rückbezug auf eine kollektive Erinnerung suchen, die in einer fragmentierten Gesellschaft verbindende Kraft zu entfalten vermag.
Streit um „Oberindianer“
Was aber wäre Kultur ohne ihre gegenläufigen Effekte. Da sie als Sinnprogramm die Selbstbilder einer Gesellschaft organisiert und repräsentiert, produziert sie neben der Verständigung auch fortlaufend Zuordnungskonflikte. Wann wäre das im abgelaufenen Jahr amüsanter sichtbar geworden als bei dem Streit um Udo Lindenbergs „Sonderzug nach Pankow“?
Berliner Chöre sollten den Klassiker bei einem Festival singen. Einzelne Akteure störten sich an dem auf Erich Honecker gemünzten Wort „Oberindianer“. Sagt man das noch? Steckt in der Vokabel einen Zungenschlag rassistischer Herabsetzung? Am Ende sang jeder, wie er wollte. Der Sonderzug nach Pankow rollt. Gestern wie heute verbindet er getrennte Welten. Oberschaffner Udo Lindenberg sei heißer Dank.