Virologe Streeck bei phil.cologne„Wir können nicht das ganze Leben anhalten“
- Der Virologe Hendrik Streeck und der Philosoph Markus Gabriel bildeten das Auftakt-Duo der 8. phil.cologne.
- Streeck betont, dass es Zeit sei, eine neue Corona-Strategie zu entwickeln.
- Gabriel mahnt an, dass man „die riesigen Kollateralschäden“ im Auge behalten müsse.
- Der Auftakt in Köln geriet zu einem echten Coup für die Veranstaltung.
Köln – Man duzt und versteht einander, dennoch sieht Hendrik Streeck einen großen Unterschied zu seinem Gesprächspartner Markus Gabriel: „Wir Virologen müssen extrem aufpassen, was wir öffentlich sagen, während die Philosophen sagen dürfen, was sie wollen.“
Es war gewiss ein Coup der 8. phil.cologne, diese beiden Bonner Kapazitäten als Eröffnungsduo für die Balloni-Hallen gewonnen zu haben. Gabriel hatte die alleinige Pandemie-Deutungshoheit der Virologen schon in einem Interview mit dieser Zeitung kritisiert und forderte nun: „Die Philosophie muss mit an den Tisch.“
Der Leiter der Heinsberg-Studie sieht das positiv, hatte dem Festival aber mit einem viel beachteten Zeitungsinterview eine Neuigkeit vorweggenommen: seine Forderung nach einer Änderung der Corona-Strategie.
Wenig schwere Fälle
Streeck erklärte auch vor den 175 Zuschauern im Saal, es sei falsch, nur auf die steigenden Infektionszahlen zu schauen, „die wir außer in Schweden in allen EU-Ländern feststellen. Denn gleichzeitig beobachten wir keinen Anstieg der Todesrate, und momentan brauchen hierzulande nur vier Prozent der Infizierten stationäre Behandlung.“
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Nur die beiden letzten Faktoren müsse man unbedingt niedrig halten. „Wir sind bei einem Corona-Risiko angekommen, das für die Gesellschaft einschätzbar ist.“ Nicht abschätzbar sei hingegen die Gefahr für jedes Individuum. Es gebe junge Menschen ohne Vorerkrankungen, die dennoch schlimme Verläufe erleben, „aber auch Hundertjährige, die Covid-19 ohne Symptome überleben“.
Streeck erwartet steigende Infektionszahlen
Für Herbst und Winter erwartet der Virologe steigende Infektionszahlen, rät aber davon ab, „bei 5000 neuen Fällen pro Tag in Panik zu geraten“. Er sieht angesichts der weit unter den Befürchtungen gebliebenen Todesquote die von ihm vorgeschlagene Corona-Ampel „auf hellgrün“. Das Virus werde so schnell nicht weggehen, ein Impfstoff kann womöglich auch erst in fünf Jahren bereit stehen, „aber wir können in einer Pandemie nicht das ganze Leben auf Halt setzen“.
Gabriel hält die virologisch-epidemiologische Expertise für unabdingbar, kritisiert aber: „Auf alles erwarten wir eine Antwort von den Virologen – warum nicht von Philosophen, Politikwissenschaftlern und Psychoanalytikern?“ Denn es gebe eine Lücke zwischen den naturwissenschaftlichen Tatsachen und den Schlussfolgerungen fürs öffentliche Leben. „Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass man bloß einen Virologen anrufen müsse, um zu wissen, was wir tun sollen.“ Wobei er wie Streeck die erste Lockdown-Reaktion angemessen fand.
Gabriel: „Maske als Sozialkondom“
Doch Gabriel erinnert an die HIV-Epidemie, „in der niemand auf die Idee gekommen ist, eine Kondompflicht einzuführen. Nun aber „Maske als Sozialkondom“. „Warum“, fragte der exzellente Moderator Jürgen Wiebicke, „diskutieren wir dieses Virus auf so einmalige Weise?“ Der Philosoph führt dies auf „auf einen schlechten Umgang mit unserer eigenen Sterblichkeit“ zurück. Dieser schaffe eine „ungesunde Einstellung zum Lebensrisiko“ und nähre die abstruse Hoffnung, „nun durch einen Impfstoff oder ein wirksames Medikament eben doch unsterblich zu werden“.
Ob Streeck denn auf seinen geforderten „Strategiewechsel“ schon eine Reaktion bekommen habe, will Wiebicke wissen. Die gebe es nur vom SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach, der vor möglichen Langzeitschäden bei Covid-19-Patienten warnt. „Die mag es in Einzelfällen geben“, räumt Streeck ein, „aber sie sind sehr selten.“ Zudem kämen sie vere inzelt auch nach Mandelentzündungen vor. „Deshalb sind solche Warnungen dysfunktional, weil sie Angst machen und vom Normalbürger nicht eingeordnet werden können.“
Gabriel mahnt an, dass man „die riesigen Kollateralschäden“ im Auge behalten müsse. Corona habe die türkisch-griechischen Grenzstreitigkeiten verschärft und die Gefahr eines Kriegs zwischen zwei europäischen Staaten heraufbeschworen. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie seien noch gar nicht absehbar, und Medizin bestimme höchst anfechtbar die geopolitische Agenda. „Und was tun wir uns denn gerade an mit Reisewarnungen, statt auf europäische Solidarität zu setzen?“
Die von Gabriel gegeißelte „Corona-Olympiade“, in der man voller Nationalstolz auf die schlimmer betroffenen Länder schaut, lehnt auch Streeck ab. Zumal er glaubt, „dass wir die Pandemie nur als Weltgemeinschaft bewältigen können. Denn das Virus kennt keine Grenzen“.
Weitere Festival-Tipps
Peter Sloterdijk kommt am Dienstag, den 15. September zum Festival. Um 18 Uhr stellt er in der Comedia sein Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ vor. Es moderiert Svenja Flaßpöhler.
Am gleichen Abend um 19 Uhr ist Georg Wilhelm Friedrich Hegel bei seinem Biografen Klaus Vieweg als „Philosoph der Freiheit“ in besten Händen (Stadtbibliothek, 19 Uhr). Über „Die Zukunft nach Corona“ spekuliert Matthias Horx ebenfalls am 15.9. um 21 Uhr in der Comedia. Am Donnerstag sprechen Bernhard Schlink und Susanne Schmetkamp über Empathie: „Kann ich wissen, was du fühlst?“ (Comedia, 19 Uhr). (EB)