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Verblüffend und hochpräziseKratzer hebt „Tannhäuser“ mit Videos auf neue Ebene

Lesezeit 5 Minuten
bayreuth

Bei einer Performance am Weiher vor dem Festspielhaus singt Dragperformer Le Gateau Chocolat.

Bayreuth – Es strebt zum Herrn der fromme Christ, wenn er auf der Piste ist. Tatsächlich glückt das beste Büßen nur per pedes, mit den Füßen. Pilgern hebt die Seel‘ zu Gott, und bald sind alle Sünden fott. Nie ist es ein gutes Jahr, wenn man nicht war in Kevelaer. Schwere Fälle geh’n nach Rom, zum Papst in seinen Petersdom.

So oder ähnlich könnte man sich angesichts der oft humoristischen Bayreuther Neuinszenierung einen Reim auf Tannhäuser machen, der mit Elisabeth, in deren Gegenwart staatstragende Sängerwettbewerbe auf der Wartburg stattfinden, gewiss brav leben könnte, wäre da nicht Venus, die Liebesgöttin. Dieser Spagat führt zu Verwerfungen, weswegen Tannhäuser eine fast mörderische Pilgerstrecke auf sich nehmen muss – zum Papst nach Rom

Nur anfangs in Thüringen

In Tobias Kratzers Inszenierung befinden wir uns nur anfangs in Thüringen, wo Venus im Pailletten-Einteiler ein burleskes, doch wenig einträgliches Tourneetheater leitet (mit der Drag-Queen Le Gateau Chocolat und einem Kleinwüchsigen im Oskar-Matzerath-Look und mit Wagner-Barett). Ihr zuliebe verdingt sich Tannhäuser als Clown. Seinen Abend erleben wir als Reise eines Künstlers in das Innerste der Kunst, Tannhäuser wird gleich eine Oper singen, die sein Leben ist. Es wird ungewöhnlich spannend.

Videobilder begleiten diesen Weg. Während der Ouvertüre fliegt die Kamera über die Wartburg, Bilder der Erhabenheit, dann kippt die Drohne in die Vogelperspektive und verfolgt einen altertümlichen grauen Citroën-Lieferwagen, auf dessen Fahrersitz – nun schaut die Drohne von vorn ins Cockpit – Venus aufgekratzt herumhüpft und das Leben genießt; es läuft vermutlich ein ambitioniertes französisches Musikprogramm.

Tannhäuser wird selbstreferentiell

Doch hat die Dame das Zeug zur Aktivistin, überall verklebt sie Plakate mit dem Wagner-Zitat „Frei im Wollen, frei im Tun, frei im Genießen“, in einem Fastfood-Restaurant prellt sie die Zeche, und ein Parkwächter, der sich ihr in den Weg stellt, wird langsam und ungerührt überfahren. Solche Schoten, die ins Genre der schwarzen britischen Komödie hinüberspielen, kennt man etwa aus dem Film „Ein Fisch namens Wanda“

Das alles gefällt dem Tannhäuser immer weniger. Dass er eine glänzende Tenorkarriere in Bayreuth geopfert hat, wird ihm irgendwann schmerzlich bewusst. Und als er in seinem Rucksack die „Tannhäuser“-Partitur entdeckt, ist die Sache klar. Als er auf seiner Flucht in Bayreuth landet, sieht er keinen Büßerchor, sondern festlich gewandete Menschen, die zum Grünen Hügel pilgern und dort eine „Tannhäuser“-Aufführung genießen wollen; sie tragen nämlich das Programmheft in der Hand, das auch wir Premierenbesucher auf den Knien haben.

Mehrdimensionalität einer allwissenden Regie

Zum Glück wird der Landstreicher Tannhäuser von Mitarbeitern der Festspiele erkannt, zu denen der Regisseur die originale Jagdgesellschaft umfunktioniert hat. Er hat dort ja schon früher gesungen. Im zweiten Akt gewinnt die Regie die Brillanz eines Scherzos. Mit der Kamera sind wir immer auch hinter der Bühne – was die aberwitzige Simultanhandlung ermöglicht, dass Venus (mit ihrem Team) über einen Balkon illegal ins Festspielhaus eindringt und sich in geraubter Verkleidung sogar Zugang zur Bühne verschafft.

Diese Mehrdimensionalität, zu der nur eine allwissende Regie fähig ist, ähnelt Frank Castorfs hinreißender „Rheingold“-Inszenierung daselbst vor einigen Jahren, die den Götterclan auf einem gottverlassenen US-Highway stranden ließ, wo jeder Blick der versteckten Kamera eine individuelle Seelenlage ausleuchtete.

Vorproduziertes und Echtzeitbilder greifen ineinander

Das alles ist verblüffend, leicht, doch hochpräzise und ironisch verspielt. Irgendwann im zweiten Akt sieht man Katharina Wagner per Videoübertragung aus der Intendanz die 110 wählen – aber nicht wegen Venus, sondern weil sich Tannhäuser soeben die maximal sündige Unsittlichkeit aus der Kehle gebrüllt hat. Er wird dann auch erst einmal ins Präsidium gebracht.

Gewiss kann man einwenden: Kratzer will oder kann die „Tannhäuser“-Geschichte nicht 1:1 erzählen, deshalb bedient er sich einer optischen Krücke als Muntermacher. Ja, kann man. Aber tatsächlich erzählt uns die Video-Dimension so viel mehr über das Stück und die emotionale Verfassung seiner Figuren, dass der Gewinn beträchtlich ist. Fabelhaft, wie vorproduzierte und Echtzeitbilder ineinander greifen.

Dritter Akt elegisch

Freilich ist nicht alles witzig oder raffiniert verspielt: Der dritte Akt breitet sich in unendlicher Melancholie aus, er ist eine Elegie unter Gestrandeten. Die aus Rom heimkehrenden Pilger sind Obdachlose, die im Müll nach Verwertbarem suchen. Elisabeth, die sich schon früh als Ritzerin zu erkennen gegeben hat, irrlichtert durch die Szene. Ihr steht die Fassungslosigkeit über Tannhäusers Taumeln zwischen ihr und Venus ins Gesicht geschrieben.

Sie wirkt wie gelähmt. Aus Verzweiflung gibt sie sich ausgerechnet Tannhäusers Freund Wolfram hin, dessen heimlicher „Abendstern“ sie war und ist. Für einen Quickie auf der Ladefläche muss er sich allerdings Tannhäusers ausgediente Clownsperücke anziehen. Danach scheidet sie unbemerkt aus dem Leben, ihren Kopf birgt der ebenfalls tödlich ausgezehrte Tannhäuser in seinem Schoß.

Ansichten eines Clowns

Erlösung? Nirgends – obwohl uns zu den letzten Takten ein Video auf einer Reklamewand vorgaukelt, Tannhäuser schaukele mit Venus in deren Citroën glücklich ins Abendrot. Vielmehr haben sich die Ansichten eines Clowns zur Halluzination eines Sterbenden geweitet, der bis zum letzten Atemzug das Doppelgesichtige und Zwiegespaltene seines alten Lebens nicht ablegen konnte.

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Ja, das ist eine wunderbare Produktion, eine der besten der Bayreuther Nachkriegsgeschichte, die übrigens auf leise Weise eine kunst- und kulturgeschichtliche Allee bereist. Immer wieder lauern offene oder verbogene Zitate, einmal Caspar David Friedrich, einmal René Magritte. Das Bühnenbild des zweiten Aktes (Rainer Sellmeier) entspricht original dem Textbuch, sehr altertümlich also. Die Telefonanlage von Katharina Wagner ist allerdings doch schon 21. Jahrhundert.

Musikalisch vieles Glückssache

Und musikalisch? Vieles ist da Glücksache. Valery Gergiev gibt dem Festspielorchester kaum je Impulse, er rudert und zittert durch die Partitur, stellenweise klappert es so auffällig (auch im Chor), dass man sich fragt, wie oft geprobt wurde.

Zum Glück lassen sich die Sänger keine Anfechtung anmerken: Stephen Gould singt die Titelpartie brillant und ohne jede Ermüdung, Lise Davidsen stattet die Elisabeth mit Hoheit und schönem Volumen aus, und von Elena Zhidkovas Venus im hautengen Pailletten-Look lässt sich anerkennend sagen: bella voce, bella figura.