Uwe Timms neues Buch „Alle meine Geister“ würdigt die Kürschnerei und das Hamburg der Wirtschaftswunderjahre.
Uwe Timms neues Buch"Eigentlich ein toller Beruf"
Ein Pelzmantel, jedenfalls ein handgefertigter, ist nicht einfach nur ein Kleidungsstück. Er ist eine Projektionsfläche für Träume, Stein des Anstoßes für Kritiker, das Ergebnis mühsamer Arbeit, die eine Kompetenz voraussetzt, die nur mit Disziplin zu erringen ist. Später dann erzählt er vom Leben: mit einem Hauch von Parfum, einem vergessenen Spitzentuch in der Tasche, einer blankgescheuerten Stelle an der Manschette, die jahrelang mit einer Armbanduhr kollidierte.
Ein Pelzmantel zwischen zwei Buchdeckeln
Mit „Alle meine Geister“ hat Uwe Timm seinen ganz persönlichen Pelzmantel auf rund 280 Seiten zwischen zwei Buchdeckel gelegt. Der Schriftsteller, der in seiner Jugend den Beruf des Kürschners erlernt hat, greift dabei auf Fähigkeiten zurück, die zu den ureigensten dieses Handwerks gehören: Wie er es als 15-Jähriger mit Persianerstücken im Sortierraum des Modehauses Levermann getan hat, so legt Timm nun Erinnerungen, Anekdoten aus den Hamburger Kürschnerwerkstätten der Nachkriegszeit und ihre Persönlichkeiten nebeneinander, sortiert, kombiniert, passt an, lässt aus und verblendet, bis die Sehnsüchte, Erfahrungen und Skurrilitäten vergangener Tage bunt und lebendig werden: „Es waren interessante Menschen, die wichtig für mich waren“, erzählt er im Interview. Vorbilder? „Wenn man so will, ja. Existenzformen, die staunenswert sind, die man nicht so in toto übertragen kann.“
Entstanden ist ein autobiographisches Stimmungsbild der Wirtschaftswunderjahre, ein Coming-of-Age-Roman, der das Heranwachsen skizziert in einer Zeit, in der der Krieg noch nachwirkt. In einer Gesellschaft, in der Duzen und Siezen festgelegten Hierarchien folgen und die von der Trauer um verlorene Existenzen ebenso geprägt ist wie vom Wunsch nach Luxus und Status. All das aus dem Blickwinkel des Heranwachsenden, über den der Autor einen Freund sagen lässt: „Der ist Existenzialist, der mag kein Geld und hat keins.“
Tierschutz: berechtigte Anliegen, die man früher nicht sah
Im Plauderton des 83-Jährigen lässt Timm teilhaben an Neugier und Staunen des 14- bis etwa 20-Jährigen, an seinen stillen Beobachtungen der Kolleginnen, an Ausflügen auf die Reeperbahn, an einer Reise nach Schweden – und immer wieder am Erleben eines Handwerks, dessen Vertreter heute zu den letzten ihrer Art gehören.
Detailliert zollt er ihrer Kunstfertigkeit Rechnung, thematisiert aber auch die später in den Vordergrund getretenen Fragen zum Tierschutz. Ein berechtigtes Anliegen, bekennt der Autor und frühere Kürschner aus heutiger Sicht: „Der Beruf ist eigentlich ausgestorben durch die Massentierzucht. Ein gezüchteter Nerz ist schon ein Opfer, bevor er stirbt. Das Problem mit der Tötung der Tiere habe ich damals nicht gesehen.“
In den Wirtschaftswunderjahren war eher die günstige, wenn auch weniger aufwändige Produktion aus dem Ausland eine Sorge, die die Branche beschäftigte: Auf einmal gab es neben maßgeschneiderten Modellen aus dem Atelier auch erschwingliche Pelze im Kaufhaus.
Buchmarkt und Kürschnerei: zwei Branchen mit ähnlichen Problemen
Erleben heutige Buchhändler, die sich im Wettbewerb mit Onlineanbietern behaupten müssen, oder Schriftsteller, die plötzlich mit Künstlicher Intelligenz konkurrieren, ein ähnliches Phänomen? „Darauf hatte ich es noch nicht bezogen, aber ich würde zustimmen: Die Parallele ist ganz offensichtlich. Da sind viele gefährdet. Bei den Kürschnern hat man gesehen: Wer Qualität liefert, hält sich. Wer mit schneller Feder schreibt, bekommt Probleme mit der Künstlichen Intelligenz“, erwartet der Autor.
Qualität und Präzision sind Ansprüche, die er aus seinen Lehrjahren mitgenommen hat – etwa durch das Beispiel des gewerkschaftlich engagierten, sozialdemokratischen Kürschners Walther Kruse, einer von vielen, denen Timm in „Alle meine Geister“ ein Denkmal setzt: „Er war unabhängig, weil er sehr gut arbeitete, akribisch. Ich habe von ihm gelernt, wie wichtig es ist, dass man durch genaues Sich-Mühe-Geben unabhängig wird. Man wird unangreifbar. Wer pfuscht, ist immer gefährdet. Auch in der Schreiberei.“
Nicht aus eigener Passion strebte Timm, Jahrgang 1940, in die Pelzbranche, sondern auf Wunsch des Vaters, der nach dem Krieg mit einer gefundenen, im Buch als Familienmythos immer wieder erwähnten Pelznähmaschine seine Selbständigkeit begründet hat. Zunächst standen für den Sohn die Zeichen auf Übernahme des elterlichen Betriebes, bevor er einige Jahre später doch das Abitur ablegen und studieren konnte.
Das Buch sei „eigentlich ein Corona-Buch: Ich arbeitete damals an einem ganz anderen Projekt, für das ich hätte reisen müssen. Da das nicht ging, dachte ich: Das ist jetzt die Gelegenheit, auch einmal über diesen Beruf zu schreiben. Kürschner, das ist ja eigentlich ein toller Beruf! Die Begriffe, die damit zusammenhängen. Das alles ist aufbewahrenswert.“ Wer die Gerüche, Geräusche und Gepflogenheiten einer Pelzwerkstatt noch erlebt hat, findet hier viel Vertrautes.
Bücher als Verbindung durch Raum und Zeit
Aus der Ferne, selbst nicht mehr aktiv, habe er den Niedergang der Branche erlebt, so Timm: „Es tat mir leid. Auch deswegen hatte ich den Wunsch, darüber zu schreiben. Ich habe intensiv geträumt, das tue ich immer, wenn ich an einem Buch arbeite. Die Personen saßen mir auf der Brust und sagten: ‚Du musst schreiben!‘“
Personen, die unbewusst seinen literarischen Werdegang beeinflussten: „Alle meine Geister“ ist auch ein ganz persönlich kuratierter Literaturführer, in dem Timm Revue passieren lässt, welche Werke ihn prägten, wie sie in sein Leben gelangten – und wie er sie bei Bedarf zwischen Fellstücken versteckte. Liebevoll erinnert er nicht nur die Titel, sondern würdigt einzelne Exemplare, die durch seine Hände gingen, erzählt, welche er über die Jahre verlor, welche heute noch mit den Eintragungen von damals bei ihm stehen.
Bücher als Verbindungen über Raum und Zeit hinweg – zu jungen und alten Kürschnern, zu einer Urlaubsliebe, zu einer alten russischen Dame, die er als Kundin kennenlernte: „Meine Lektüreerlebnisse sind an sie gebunden. Es war ein archaisches Lesen“, urteilt er heute – und fast klingt es, als sehne sich der Akademiker zurück nach dieser unbefangenen Faszination.