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Gespür für Sorgen der MehrheitWas Taylor Swift zur Ausnahmekünstlerin macht

Lesezeit 4 Minuten
Taylor Swift steht auf einer Bühne.

Taylor Swift

Die Country-Musik ihrer Anfänge hat Swift hinter sich gelassen. Das Signal, das sie damit gesetzt hat, wirkt trotzdem weiter nach: Ich bin eine von euch.

Wer benennt jetzt noch einen Himmelskörper nach Taylor Swift? Das wäre es eigentlich. Aber der Megastar ist nicht nur längst seine eigene Galaxie. Swift produziert nebenbei auch Erdbeben. Bei ihrem Konzert am 22. und 23. Juli in Seattle kamen die Fans dermaßen in Bewegung, dass Seismografen Erschütterungen in der Stärke eines kleinen Bebens registrierten. Wenn Taylor Swift singt, vibriert nicht nur die Luft, sondern auch die Erde. Klingt außergewöhnlich.

270 Millionen Follower auf Instagram

Was ist so extrem an dieser Künstlerin, die nichts weniger als eine Ausnahme sein möchte? Taylor Swifts Instagram-Account rangiert mit 270 Millionen Followern in stratosphärischen Höhen. Sie gehört zum erlesenen Club der Künstler mit mehr als einer Milliarde Streamings bei Spotify. Zugleich verkaufte Swift bislang 252 Millionen Tonträger mit ihrer Musik. Mag der Musikmarkt in Streaming und Vinyl zerfallen, dieser Star verklammert mühelos zwei ansonsten strikt getrennte Universen der Unterhaltungsindustrie.

Britney Spears hat gerade den Sprung in die Topliga bei Spotify geschafft. Ihr Titel: „Toxic“. Am gleichen Tag erschien Taylor Swift auf der Streaming-Plattform mit ihrem „Anti-Hero“. Die Songtitel sprechen programmatisch Bände. Hier die Queen der Abstürze, dort das American Girl.

Taylor hat nicht so viel Biss wie Powerfrau Beyoncé. Sie breitet keine Lebenskrisen aus wie Adele. Und so exzentrisch wie Lady Gaga ist sie schon gar nicht. Taylor Swift ist mega, vor allem aber scheint sie meganormal. Kaum ein anderer Popstar ist derzeit so konsensfähig wie sie. Sie begeistert nicht als stellare Überfigur, sondern als Projektionsfläche für Sorgen und Bedürfnisse, die alle haben.

Ob ihre Fans während der Erdbebenmessung den Song „Shake it off“ hörten, den Titel wörtlich nahmen und sich alle in der gleichen Sekunde schüttelten? Gleichviel. Der Song bringt Swifts Philosophie auf den rhythmisch akkuraten Punkt. Höre nicht auf die anderen, sei du selbst. Schüttle ab, was dich stört, verbringe keine Zeit mit Nörglern und Herzensbrechern. Lebe. Weiter nichts. Taylor Swift erscheint normal bis zur Langweiligkeit. Sie wirkt, als verkörpere sie die glänzend lackierte Durchschnittlichkeit.

Mädchen von nebenan oder gute Fee

„Shake it off“: Ein Song als Mutmacher gegen eine als feindlich wahrgenommene Außenwelt. Wie stabilisiert sich die Einzelne in einer Umgebung, die toxisch wirkt? Indem sie cool bleibt und Störfaktoren ausblendet. Spiegelt diese defensive Lebenshaltung die Erfahrungswelt ihrer Millionen Fans? Erstaunlich jedenfalls, wie Swift Konzept und Zuschnitt einer Künstlerpersönlichkeit neu definiert hat.

Früher war der Künstler die Ausnahme. Seine soziale Rolle bestand darin, in Konflikt mit der Mehrheitsgesellschaft zu leben, sie provokativ herauszufordern. Der Künstler besaß das überlegene Wissen, er hielt den Spießern den Spiegel vor. Künstler hatten einsam, exzentrisch und herausfordernd zu sein. Stars erst recht. Taylor Swift dagegen wirkt mal wie das nette Mädchen von nebenan, mal wie die gute Fee aus einer Geschichte, die trotz aller Probleme gut ausgeht. Vor allem aber fasziniert sie als Künstlerin, die nicht mehr außerhalb ihres Publikums steht, sondern mittendrin. Taylor Swift hebt sich nicht als Ausnahmephänomen ab, sie zieht Millionen als ihre Repräsentantin an – wie das unsichtbare Zentrum eines magnetischen Feldes der Mehrheitsmentalität.

Kein Wunder, verfügt sie doch über die soziale DNA der amerikanischen Mittelschicht. Ein bürgerliches Elternhaus, eine Karriere über Castings und Gesangswettbewerbe – das klingt kein bisschen nach Bohème. Taylor Swift trifft deshalb die Gefühlslagen eines Publikums so genau, das weniger gemeinsam träumen als eher kollektive Verunsicherungen bemeistern möchte.

Die Country-Musik ihrer Anfänge hat Swift hinter sich gelassen. Das Signal, das sie damit gesetzt hat, wirkt trotzdem weiter nach: Ich bin eine von euch. Swifts Kosmos scheint ebenso geschlossen wie ihr Image. Seit Jahren spielt sie Alben früherer Jahre noch einmal ein.

Für Oktober 2023 ist mit „1989“ das nächste Remake angekündigt, dieses Mal für ein Album von 2014. Als Sängerin und Songschreiberin und Musikproduzentin steht Swift mit gerade einmal 33 Jahren dermaßen stark da, dass sie in ihre eigene Wiederholungsschleife eintreten kann.

Keine Skandale, keine Meinung – bis jetzt

Keine Skandale, keine politische Meinung: Taylor Swift lebt bislang gut mit einem Image, das so glatt scheint wie ein perfekt polierter Spiegel. Über Jahre hat sie Festlegungen vermieden. Auch das wird sie für Millionen zur guten Freundin gemacht haben, die zufälligerweise auch noch tolle Songs produziert.

Inzwischen gibt sie ihre Zurückhaltung auf. Kritik an Donald Trump und Songtexte, die eingefahrene Rollenbilder infrage stellen, zuletzt auch ihr Eintreten für die LGBTQIA+-Community – Taylor Swift bezieht Position. Zur politischen Künstlerin wird deshalb noch lange nicht. Swift lebt jenen Anstand, der auch zum Mainstream gehört. Sie bleibt Miss Americana, die junge Frau ohne Exzess und Extravaganz, dafür aber emotionaler Anker für ein Millionenpublikum, das sich fragt, wo in turbulenten Zeiten die Reise hingehen wird.