Die Schauspieler Bruno Cathomas und Seán McDonagh sprechen eine Stunde lang unisono, wie echte Zwillinge mit einer Stimme.
Berührende KammerspielfassungSchauspiel Köln inszeniert Ágota Kristófs Kriegstrilogie „Das große Heft“
Die brandgeschwärzte Mauer, der letzte Schutz, fällt mit einem Knall. Über die Trümmer steigen die Zwillinge, und dann stehen sie da, in weißen Hemdchen und Cargohosen, Schulter an Schulter, an den Händen gefasst. Sie haben niemanden und nichts mehr außer sich selbst. Dies ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang des erschütternden Romans „Das große Heft“ der ungarisch-schweizerischen Autorin Ágota Kristóf.
Die Zwillinge sind auf der Schauspiel-Bühne im Depot 2 erwachsene Männer. Die Handlung beginnt jedoch, als die Mutter sie als Kinder aus der zerbombten Stadt zur Großmutter aufs Land bringt und dort in vermeintlicher Sicherheit zurücklässt. Die Jungen erleben dennoch Grauen und Gräuel. Die notieren sie in einem großes Aufsatzheft – das ist die Erzählung des Romans. Im Schauspiel tragen die erwachsenen Zwillinge die Einträge vor. Es sind Sätze wie Peitschenhiebe: kurz, direkt, schmerzhaft. Etwa wenn die Kinder im Wald einen toten Soldaten finden: „Er ist noch ganz, nur die Augen fehlen ihm. Wegen der Raben. Wir nehmen sein Gewehr in einem Reisigbündel versteckt, die Patronen und die Handgranaten in unseren Körben, unter den Pilzen.“
Inszenierung: Die Kraft der Worte wirken lassen
Die Schauspieler Bruno Cathomas und Seán McDonagh sprechen eine Stunde lang unisono, wie echte Zwillinge mit einer Stimme. Eine großartige Leistung. Der Vortrag ist einerseits kunstvoll monoton und die Gesichter bewusst ausdrucksarm, andererseits bringt gerade Seán McDonagh einen schneidenden Ton mit. Bitterkeit steckt in Text und Vortrag, eine ans Herz greifende Kälte entsteht aus den eisigen Worten. Die Großmutter begegnet den Kindern mit verbalen Misshandlungen und lässt sie verwahrlosen. Die Kinder schaffen sich im Überlebenskampf ihre eigene Welt aus Härten und Abhärtungen. Sie entwickeln einen eigenen Wertekompass, in dem Gerechtigkeit und Gewalt so vorkommen, wie die Heranwachsenden sie nach ihren Erfahrungen verstehen.
Regisseurin Mina Salehpour hat mit dem Ensemble die Texte zusammengestellt und setzt ganz auf die Kraft der Worte. Die minimalistische Inszenierung gibt dem Text Raum. Die Bühne (Andrea Wagner) mit den Trümmern auf weißer Fläche in schwarzer Umgebung macht die Geschichte ortsunabhängig und zeitlos, in der gebrochene Menschen auf Bruchstücken weiterleben. Diese lassen sich nur provisorisch auftürmen, sortieren oder als Grabstelen aufstellen. Ebenso minimalistische weiße Lichter und Toneffekte (Jan Steinfatt, Sandro Tajouri) markieren den Übergang zwischen den Kapiteln im „Großen Heft“.
Zwei Akte erzählen die unterschiedlichen Schicksale der Brüder
In der zweiten, nahtlos anschließenden Stunde, trennen sich die Brüder und erzählen einzeln die Geschichten der Folgeromane der Buch-Trilogie. „Der Beweis“ ist die Sicht von Lukas, der im Haus der Großmutter bleibt und keinen Neuanfang schafft. Seán McDonagh zeigt ihn als sensiblen Verzweifelten, der mit wenig Glück sehr zufrieden wäre, doch auch dieses nicht erhalten kann, da er unfähig ist, Liebe zu geben. „Die dritte Lüge“ ist die Fluchtgeschichte des sanften Claus, der auch in der neuen Heimat kein Zuhause findet und als reifer Mann an den Ort der Kindheit zurückkehrt, um den Bruder zu suchen.
Ob die Figuren wirklich zwei verschiedene Menschen sind oder doch nur Brüder im Geiste und eine Vermischung von Wünschen, Lebenslügen und Wirklichkeit, bleibt sowohl in den Romanen als auch in der Bühnenfassung offen. Individuen, Ort und Zeit der Handlung sind unbestimmt, daraus wächst die Relevanz dieser Produktion: Krieg, Missbrauch und Flucht und die daraus entstehenden Traumata verlieren nie an Aktualität.
Auch Regisseurin Mina Salehpour ist als Kind mit ihren Eltern aus dem Iran nach Deutschland gekommen und hat ihre eigene Geschichte von Entwurzelung und Neuanfang. Dass der möglich ist, eröffnet sie mit dem Ende des Theaterabends. Das Horror-Haus der Großmutter ist weg, die Erinnerung daran im Dorf getilgt, an der Stelle ist ein Sportplatz. Bruno Cathomas zeigt ein ganz kleines Lächeln und sagt: „Kinder spielen drauf.“
Das Stück auf einen Blick
Das Stück: Das Schauspiel Köln hat eine beeindruckende Bühnenfassung der Kriegstrilogie von Ágota Kristóf (1935-2011) erstellt. Die Inszenierung: Mina Salehpour gestaltete das Stück im Depot 2 als Kammerspiel und – analog der Buch-Trilogie – in drei Kapiteln. „Das große Heft“ (1986), „Der Beweis“ (1988) und „Die dritte Lüge“ (1991).
„Das große Heft / Der Beweis / Die dritte Lüge“, wieder am 11./20. Apr, 4./14./31. Mai, jeweils 20 Uhr, Karten: 0221-22128400