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Roman von A.L. KennedyWehrhaft trotz aller Schrecken

Lesezeit 3 Minuten
10.03.2023 Köln Dorint Hotel
A.L. Kennedy
Lit.Cologne
Fotos: Hyou Vielz

Autorin A.L. Kennedy.

A.L. Kennedy hat neuen Roman geschrieben. Rundschau-Autor Hartmut Wilmes hat mit der schottischen Autorin über ihr Werk und die Lage in Großbritannien gesprochen.

„Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ – irritierender kann ein Buchtitel kaum klingen. Und A.L. Kennedys neues Werk löst das Versprechen schillernder Eigenwilligkeit ein. Zwei gegensätzliche Stimmen erzählen die Geschichte: hier die Lehrerin Anna Louisa McCormick, die mitten im Lockdown für ihren Sohn, ihren Liebhaber und ihre Schüler nur das Beste will – dort der sinistre Ex-Polizist Buster, ein höchst effektiver Lügner und Zerstörer.

Im Rundschau-Interview vor ihrer lit.Cologne-Lesung erklärt die britische Autorin ihre Konstruktion so: „Dies spiegelt die aktuelle Polarisierung in England. Die Story von Anna ist die von all jenen, die mit der Willkür der Verantwortlichen umgehen müssen – vor einem dunklen Hintergrund, der immer dunkler wird.“

Wie nah sind sich A.L. Kennedy und A.L. McCormick? „Bis auf die gleichen Initialen gar nicht so sehr. Ich habe zwar mit Kindern gearbeitet, aber nicht als Lehrerin, bin auch weniger sonnig als Anna und somit irgendwie zwischen den Sphären beider Figuren.“

A.L. Kennedy: Part des "Monsters" nachts geschrieben

Als Studentin in Edinburgh gehörte Anna einer politischen Straßentheatertruppe an, in die sich Buster einschmuggelte, um sie dann an die Polizei zu verraten. Später wird er noch weitaus gefährlicher: ein Killer-Chamäleon, das sich das Vertrauen seiner todgeweihten Opfer erschleicht.

Wie konnte die gebürtige Schottin so überzeugend ins Hirn dieses Monsters schlüpfen? „Ich habe ihren Part tagsüber und seinen nachts geschrieben, gewissermaßen als Komposition all der schrecklichen Charaktere in der englischen Wirklichkeit.“ Wobei Busters Opfer zum Teil noch schlimmer sind: ein amerikanisches Sexualmonster „von der Sorte eines Jeffrey Epstein“ oder ein britischer Politiker namens Nigel… .

Auf der anderen Seite wirkt Anna trotz ihres Mutes im Duell mit Buster manchmal fast ein wenig naiv. „Sie versucht, positiv zu bleiben, obwohl sie die Welt versteht – was eigentlich nicht geht, denn die Welt ist furchtbar.“

A.L. Kennedy: Wenig Zeit für ein neues Comedy-Programm

Kennedy selbst tritt gelegentlich als Stand-up-Comedian auf und meint: „Ich müsste dringend mal wieder eine neue Show schreiben.“ Doch da ist eben vor allem der zeitraubende Zorn auf die Politik. Die heute 57-Jährige hat in etlichen Artikeln und Interviews sowohl Tony Blairs Rolle im Irak-Krieg wie auch den Brexit („selbstmörderische Dummheit“) scharf kritisiert.

Das Grimm-Märchen „Rumpelstilzchen“ spielt eine zentrale Rolle im Buch, nach dem teuflischen Kobold nennt die Autorin alle Finsterlinge „Stilzchen“. Das Märchen zeige, wie wichtig es ist, das wahre Wesen von Menschen wie Kobolden zu kennen. Obwohl: „95 Prozent von uns kannten die wahre Natur von Premierminister Boris Johnson, und er bekam dennoch Macht.“ Aufgrund seiner flatterhaften Corona-Politik titulierte ihn A.L. Kennedy als „Todesclown.“

Die vom neuen Premier Rishi Sunak als Patent gegen illegale Einwanderung bezeichnete „Stoppt-die-Boote“-Initiative ist in ihren Augen eine inhumane „Rassismus-Pantomime“. Derart radikaler Bekennermut hat seinen Preis. Denn während ihr Roman – eine kühne Mischung aus Gesellschaftskritik, Thriller, Liebesgeschichte und Pandemiebilanz – hierzulande am 20. März erscheint, gibt es noch kein Datum für Großbritannien.

Schwacher Trost: Anna macht am Ende eine Art Frieden mit ihrer Umgebung: „Ich versuche, so zu leben, wie ich es in einem barmherzigen Land tun würde.“

A.L. Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land. Roman, aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel. Hanser, 462 S., 28 Euro.


Zur Person

Alison Louise Kennedy wurde am 22. Oktober 1965 im schottischen Dundee geboren. Sie lebte fast 30 Jahre lang in Glasgow und nun im englischen North Essex. Zu ihren preisgekrönten Werken gehören „Das blaue Buch“, „Gleißendes Glück“ und „Wir versuchen, unsere Zeit zu überleben“. Auf ihrer Website gibt die Creative-Writing-Dozentin originelle Tipps für angehende Autoren. Bei völliger Talentfreiheit sei sie allerdings hilflos: „Man kann Pinguinen nicht das Fliegen beibringen.“