Constanze Neumann erzählt in „Das Jahr ohne Sommer“ über die gescheiterte Republikflucht ihrer Familie.
DDR FluchtConstanze Neumann über eine Kindheit in Transit
Der erste Satz lässt aufhorchen wie ein brillanter Geigenton: „Als ich klein war, lebte ich in einem Land, das es nicht mehr gibt.“ Darauf folgt eine mitreißend durchkomponierte deutsch-deutsche Geschichte, die autobiografisch aufwühlend erzählt ist, dabei aber allen Zauber leiser Literatur findet. Constanze Neumann und ihre Eltern haben Ungeheuerliches erlebt, das viereinhalb Jahrzehnte später noch die umwälzende Kraft eines Naturereignisses birgt: „Das Jahr ohne Sommer“ ist quasi der Nullpunkt, von dem aus die Autorin auslotet, was passiert ist, und was es aus ihr gemacht hat.
Stasispitzel in der Werkerstatt
Die Eltern und ihre 1973 in Leipzig geborene Tochter wagten am 19. Februar 1977 die Flucht: „Das Auto, in das wir stiegen, ein Mercedes, war größer als alle Autos, die ich kannte.“ Im Kofferraum des Wagens sollte es in den Westen gehen. „Dass es ein neues Gesetz gab, dass bei begründetem Verdacht Westautos auf der Transitstrecke durchsucht werden durften, wussten meine Eltern nicht.“
Und sie konnten auch nicht ahnen, dass in der Werkstatt, die die Fluchtautos präparierte, jemand arbeitete, der Termine und Namen an die Stasi weitergab.
Die Eltern kamen beide ins Gefängnis. Die Mutter, Eva-Maria Neumann, schrieb vor 16 Jahren ebenfalls über die gescheiterte Republikflucht und die Torturen im Frauengefängnis Hoheneck. Es war ein monatelanges Martyrium, das sie physisch und psychisch angriff. Dauerhaft. So wie sie als junge Frau in der DDR Geige spielte, vermochte sie es anschließend aus gesundheitlichen Gründen nie mehr.
Melancholie ist eine Facette des neuen Buchs von Constanze Neumann, aber auch der Lebensmut, den ein junger Mensch auf der Suche nach der Heimat findet, kommt zum Tragen. Das Jahr ohne Sommer war geprägt von bitteren Erfahrungen im Kinderheim in Gera, tröstlicher Zwischenstation in der Leipziger Krochsiedlung bei der Oma, bei der es nach Malzkaffee und Wäsche roch, und der Sehnsucht nach den Eltern.
Die wurden erst 19 Monate später aus der Haft entlassen. Freigekauft von der Bundesrepublik brachte man sie mit Bussen über die Grenze. Als Constanze später nachkommen durfte, erkannte sie den Vater auf dem Bahnsteig in Essen, wo man bei der Tante untergekommen war, zuerst nicht.
In Aachen, im Dreiländereck, findet die kleine Familie ein neues Zuhause, der Vater, ein hervorragender Pianist, wird Leiter der dortigen Musikschule und beißt sich die Zähne am antiautoritären Kurs mancher Kollegen aus. Die Mutter übt wieder Geige, gibt Unterricht.
Allein auf Zugreise
Aber es fühlt sich anders an, als das, was sie einmal gelernt hatte. Im Gefängnis hat sie gesundheitlichen Schaden genommen. Die Zeit hinterlässt Spuren, wie bei den anderen Familienmitgliedern auch. Die Familie macht irgendwie weiter, findet in der Musik eine Grundmelodie.
Heimelig ist das Umfeld der Grundschule im grünen Aachener Ortsteil Hanbruch. Constanze singt dort Karnevalslieder, lernt den Zungbrecher-Refrain „Laderitschumritschumritschumritschumdei – juchei!“ Selbstverständlich antwortet sie auf der Zugreise – sie darf als Bundesbürgerin mit ihrem Pass als einzige aus der Familie die Oma im Osten besuchen – auf neugierige Fragen der Mitreisenden, dass die Eltern im Gefängnis saßen. Wenig später verlassen die Bahnfahrer betroffen das Abteil. In Neumanns Partitur des rekonstruierten Lebenswegs ist das nur einer von vielen Mosaiksteinen, die sich zu einem bizarren Bild des Westens fügen, in dem Verständnis für die Situation der Republikflüchtlinge nicht vorurteilsfrei vorhanden ist.
Kulturelle Unterschiede
Die Bundesrepublik lernte sie als Kind zeitversetzt und mitunter auch nur im Rückblick kennen. Kulturelle Unterschiede liegen beim Gänseschmalz, mit dem die Mutter noch kocht, und dem Olivenöl, das die neuen Bekannten preisen. Ein ständiger Begleiter des Vaters ist die Skepsis, die aus seinen unmenschlichen Erfahrungen in der Sowjetunion gewachsen ist. Und sie weicht auch nicht mit Gorbatschow und der Perestroika von seiner Seite.
Als die Mutter 2008 ihre Erlebnisse im Buch veröffentlichte, wusste sie nicht, wie es dazu kommen konnte, dass ihre kleine Familie an der Grenze erwischt wurde. Im „Jahr ohne Sommer“ ist mehr darüber zu erfahren: Der Chef der Fluchthilfeorganisation lebte in der Schweiz und hielt sich einen Geparden als Haustier. Die im Westen lebende Tante hatte der Organisation vorab einen Koffer voller Geld gebracht.
Davon gab es nur einen Teil zurück, da die Flucht ja stattgefunden hatte, wenn sie auch misslungen war. „Seine beiden Fahrer waren nicht ins Gefängnis gekommen, sie hatten einen Deal mit den ostdeutschen Grenzbeamten gemacht und alle verraten, die demnächst mit der Organisation fliehen wollten.“
Familiengeschichte
Constanze Neumann studierte Anglistik, Romanistik und Germanistik. Sie lebte mehrere Jahre in Palermo und arbeitete dort als Übersetzerin. In ihrem vorhergehenden Roman „Wellenflug“ hat sie die Familiengeschichte erzählt. Der neue Roman ist autobiografisch. (EB)
Constanze Neumann: Das Jahr ohne Sommer. Ullstein, 188 S. 22 Euro.
Eva-Maria Neumann:Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit: Die Geschichte einer gescheiterten Republikflucht, Aufbau, 304 S. 9.99 E.
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