Fulminant: Caleb Azumah Nelsons Coming-of-Age-Geschichte „Den Sommer im Ohr“.
Ein Roman nicht nur für heiße NächteCaleb Azumah Nelson bringt uns den Sommer ins Ohr
„Nichts spielt eine Rolle, außer dass der DJ, als aus Taumel Ekstase wird, den Track noch einmal aufdreht. Nichts spielt eine Rolle, außer dass wir uns immer noch näher kommen.“
Stephen und seine Clique sind gerade mit der Schule fertig und erleben einen letzten Sommer, bevor der Ernst des Lebens beginnen könnte, sollte, müsste – „an der Schwelle zum Erwachsensein, noch nicht ganz da, aber irgendwo dazwischen, an einem Ort, an dem alles möglich scheint“.
Emotionale Klimakapriolen
Dieser Ort ist South East London, Stephen, der Held von „Den Sommer im Ohr“, hat wie auch Autor Caleb Azumah Nelson Eltern, die aus Ghana stammen und nach England gekommen sind, um hier ihr Glück zu finden. Der Verhältnisse sind prekär, die Gefühlswelt aller Beteiligten emotionalen Klimakapriolen ausgesetzt.
Fixpunkt in Stephens Leben ist Del, gute Freundin und dann irgendwann auch mehr. Beide träumen von der Zukunft, von einem Musikstudium – die Zusage steht noch aus, wird aber nicht zum Damoklesschwert, so lange die Musik gut ist, so lange nächtelang getanzt werden kann.
„Erinnerung, Bild und Möglichkeit schieben sich übereinander. Wir existieren nicht nur in diesem Moment, sondern in all denen, die wir zusammen verbracht haben, all denen, die vielleicht noch kommen.“
Der Soundtrack dieses Sommers reicht von Rap bis Reggae, von modernem R'n'B bis zu klassischem Soul. Und über allem schwebt Miles Davis mit seinem legendären Album „Kind of Blue“. Hier schreibt jemand mit einer großen Kenntnis und noch exzellenterem Geschmack.
Doch Nelsons Musikalität schlägt sich nicht nur im Nennen und Beschreiben von Songs nieder, sondern prägt auch seinen Stil: Rhythmisch, tänzelnd, gespickt mit Wiederholungen und Variationen entsteht hier eine Sinfonie am Rande der Großstadt.
Da wird die Frage des Protagonisten zur Selbstverständlichkeit: „Was wird aus dir, wenn keine Musik, kein Rhythmus mehr in deinem Leben ist?“
Und Nelson ist ein Poet: „Ich halte die Hand aus dem Fenster und versuche die Wärme der Welt festzuhalten“, heißt es über eine Autofahrt.
„Sprache war für mich immer eher Last als Werkzeug. Sie steckt immer irgendwo fest, zwischen Gefühl und Ausdruck geht immer etwas verloren“, lässt Caleb Azumah Nelson seinen Helden einmal sinnieren. Für den Autor gilt dies nicht.
Gelungene deutsche Übersetzung
Und die an anderer Stelle beschworene „Magie der Worte“ findet sich auch in Nicolai von Schweder-Schreiners deutscher Übersetzung.
Irgendwann ist der Sommer vorbei, die Träume gehen nicht in Erfüllung, alte Gefühle können neue Distanzen nicht überbrücken. Stephen landet in einem Loch.
Der Glaube an die Zukunft
Aber wie so oft ist es der Tod einer anderen Person, der einen Heranwachsenden ins Erwachsensein katapultiert, ein Initiationsritus im Schnelldurchgang. Ohne Vorwarnung, aber hilfreich: „Heute Abend muss mich niemand mehr über den Fluss locken. [...] Heute Abend ist überall Rhythmus. [...] Vielleicht finde ich heute Abend meinen Glauben wieder, vielleicht auch meine Fähigkeit zu lieben.“
Und weil dieses Buch den Sommer nicht nur im Ohr, sondern auch in seiner DNA hat, darf man auch an Stephens Zukunft glauben. An die dieses Autors selbstredend.
Caleb Azumah Nelson: Den Sommer im Ohr. Deutsch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Roman, Kampa Verlag, 304 S., 24 Euro