Robert Harris' neuer Roman „Abgrund“ ergründet die gefährliche Affäre des britischen Premierministers Asquith mit einer halb so alten Adeligen während des Ersten Weltkriegs.
Auf Tatsachen basierendRobert Harris spricht über sein neues Buch „Abgrund“
H.H. Asquith (1852-1928) war eine Person der britischen Zeitgeschichte, doch andererseits: Ein verheirateter Premierminister, der eine Affäre mit einer halb so alten Adeligen hat, der er überdies 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs heikelste Militärgeheimnisse anvertraut – das klingt eher nach tollkühner Kopfgeburt.
„Ja, aber wie die meisten verrückten Dinge ist es wahr“, sagt Robert Harris, der diese gefährliche Liebschaft im neuen Roman „Abgrund“ (Heyne, 510 S., 25 Euro) beschreibt. Im Gespräch mit der Rundschau erklärt der Bestsellerautor („Vaterland“, „Enigma“): „Viele Leser finden es unglaublich – deshalb der Hinweis zu Buchbeginn, dass all seine zitierten Liebesbriefe an Venetia Stanley tatsächlich von ihm stammen.“
Keine rein platonische Affäre
Der 67-jährige Autor fühlte sich bei der Arbeit „wie beim Vordringen auf unerforschtes Terrain, obwohl schon eine Biografie in den 1960ern die intimen Briefe erwähnte. Allerdings wachte damals Asquiths Tochter noch darüber, was publiziert werden durfte.“ Doch schrittweise wurden all seine glühenden Liebesschwüre öffentlich.
Dennoch hielt sich lange die Vermutung, „dass die Affäre fast so etwas wie eine Fantasie gewesen sei und die Korrespondenz eben nur seine Art, sich zu entspannen.“ Für Harris blanker Unsinn. „Er schickte ihr 560 Briefe, die sie alle behielt. Sie muss ihm mindestens 300 geschrieben haben.“ Letztere sind nicht erhalten, so dass der Schriftsteller sie erfinden musste.
War es schwierig, den richtigen Ton zu treffen? „Erstaunlicherweise nicht, sie war mir sympathisch, jemand, der clever und gelangweilt ist, irgendwie cool, wie wir heute sagen. Vor allem gab mir ihre Enkelin Zugang zu anderen Briefen von Venetia – sehr flüssige, entspannte und oft komische Texte. So konnte ich mich in diese Person leicht einfühlen.“
Debatten im Kriegskabinett sind brillant geschrieben
Der in Nottingham geborene Autor gibt zwei Hinweise, dass die Affäre zwischen Asquith und Venetia mehr als platonisch war. Künstlerische Freiheit? „Ja, aber auf ziemlich festem Fundament.“ Verräterisch sei das Auto der Firma Napier, in dem beide für anderthalb- bis zweistündige Fahrten unterwegs waren. „Ich sah einen dieser Wagen, der zwischen Chauffeur und Rückbank eine eingebaute Glasscheibe mit einem Vorhang und Jalousien an den hinteren Fenstern hatte. Da konnte man durchaus unbeobachtet eine physische Affäre haben.“
Und dann die beiden Beteiligten: „Er war berüchtigt für seine Annäherungsversuche, ein Arm um die Taille hier, ein Kuss oder eine Hand auf dem Knie dort. Er bekäme heute rasch Schwierigkeiten. Und Venetia hatte in ihrem späteren Leben viele Seitensprünge.“ Ein Urenkel des Premiers nennt diese Sex-Theorie „absolut lächerlich“. „Das ist dumm“, kontert Harris, „weil er ja auch nicht mehr weiß als ich.“
Das Milieu des britischen Hochadels mit rauschenden Festen und Luxus-Picknicks beschreibt das Buch ohne Bewunderung. „Diese Leute wirken wie Geschöpfe aus einer anderen Zeit, die aber endet. Sie stehen am Abgrund, wie der junge Mann zu Beginn, der schwankend auf der Schiffsreling balanciert und später ertrinkt.“
Große Verantwortung beim Regierungschef Asquith
Brillant geschrieben sind die Debatten im Kriegskabinett mit Winston Churchill als angriffslustigem Hitzkopf. „Stimmt, sein Marine-Desaster an den Dardanellen hätte wohl die Karriere von jedem anderen beendet. Jemand sagte mal, Churchill habe zehn Ideen am Tag und neun seien verrückt. Eine davon war der Gallipoli-Plan.“
Robert Harris sieht jedoch auch große Verantwortung beim Regierungschef Asquith, „der hier der große Richter hätte sein müssen“, stattdessen aber lieber an Venetia schrieb.
Wenig später wird sie seiner Sucht nach Zuwendung überdrüssig und beendet die Affäre, unmittelbar darauf zerbricht Asquiths liberale Regierung. „Er hat die Nerven verloren. Aber jeder, der von jemandem verlassen wurde, den er liebt, kennt doch diese Unfähigkeit, an irgendetwas anderes zu denken. Darum wollte ich dieses Buch schreiben, denn es ist eine sehr menschliche Story, und ich kann mich einer gewissen Sympathie für Asquith nicht erwehren.“
Der habe Fehler gemacht, „aber er war 62, was heute wohl 75 entspräche. Er wurde alt und müde – und er stand einem Grauen gegenüber, das niemand je vor diesem mechanischen Gemetzel an der Westfront erlebt hatte. Das hat auch andere europäische Regierungen weggefegt.“
Aktuelle Antike
Unter den 16 Romanen des Autors blicken viele auf die jüngere Neuzeit („München“ oder „Konklave“, gerade verfilmt von Edward Berger), aber er schrieb auch die erfolgreiche Cicero-Trilogie („Imperium“, „Titan“, „Dictator“). „Gut möglich, dass ich mich wieder der römischen Antike widme, die sich gut als Spiegel der Gegenwart eignet. Würde ich hingegen jetzt ein Buch über aktuelle Ereignisse beginnen, wäre es vermutlich bis zur Veröffentlichung schon überholt. Und Gestalten wie Donald Trump oder Elon Musk hat es auch im alten Rom gegeben.“ (Wi.)