AboAbonnieren

Psychologisches DramaWie ist es, mit einer Leiche zu reisen?

Lesezeit 3 Minuten
Adeline Dieudonne

Adeline Dieudonné wurde in Brüssel geboren.

In ihrem neuen Roman „Bleib“ erzählt Adeline Dieudonné von der Schwierigkeit des Loslassens.

„M. liegt hier, neben mir. Er ist tot.“

Diese wenigen Worte genügen Adeline Dieudonné, um ihr neues Buch mit einem Knall beginnen zu lassen. Es ist mit Sicherheit einer der Romananfänge, der auf Listen gelangt, wenn es um ungewöhnliche erste Worte in Büchern geht. Doch die belgische Autorin („Das wirkliche Leben“) macht auch mit dem Rest der Geschichte keine Gefangenen.

Denn statt einen Notarzt oder die Polizei zu rufen, behält die Erzählerin – sie nennt sich S. – den Toten bei sich, will die letzte gemeinsame Zeit einfach noch ein wenig verlängern. „Ich hoffte auf einen bescheuerten Streich, das würde ihm ähnlich sehen. Eine schwache Hoffnung, tot geboren.“

Austarierte Rendezvous, amputierte Stunden, die zu früh endeten.

Die beiden waren seit acht Jahren ein Paar, aber nur heimlich, denn M. hat Ehefrau und Kinder. Zusammen verbrachten sie nur „austarierte Rendezvous, amputierte Stunden, die zu früh endeten“.

Dann und wann erlaubten sie sich ein heimliches Wochenende, im Chalet eines Freundes.

Hier sitzt S. nun mit dem Leichnam, der immer kälter wird – und beginnt, M.s Ehefrau einen Brief zu schreiben. Sie breitet vor dieser Fremden ihr Leben aus, versucht, die Liebe zu deren Mann zu erklären. „Die Leiche des toten Liebhabers zu behalten ist seltsam, zu lieben ist seltsam.“

Seit zwei Tagen umschließt mich die Stille, luftdicht wie Bernstein, ich werde in ihr zum Fossil.

Erst später erfährt die Leserschaft, dass M.beim Schwimmen an einem Herzinfarkt gestorben ist. „Ohne es zu merken, hatte ich mich an die Stille gewöhnt. Seit zwei Tagen umschließt sie mich, luftdicht wie Bernstein, ich werde in ihr zum Fossil.“

Nach ein paar Tagen muss S. das gemietete Haus verlassen, und weiß, dass sie einen Fehler macht, wenn sie nun den toten M. in ihr Auto legt und mit ihm durch die Schweizer Bergwelt fährt – durch kleine Dörfer, vorbei an einem Stausee, dessen Mauer den Tod in sich trägt: Bricht sie, wäre das Tal „in weniger als neun Minuten von einem 37 Meter hohen Tsunami überflutet“.

Wir waren nicht mehr im selben Universum.

Hier und da trifft sie auf andere Menschen, es kommt zu Begegnungen, die von außen betrachtet fast normal erscheinen. „Ich ertappte mich dabei, die Leute um ihre Sorglosigkeit zu beneiden. Wir waren nicht mehr im selben Universum.“

Dieudonné hält einen nüchternen, fast klinischen Tonfall durch, wozu das Verwenden der Initialen erheblich beträgt. Das große Drama lässt sie in Nebensätzen aufblitzen (etwa den Aufruhr „in der Presse, in den sozialen Medien“), konzentriert sich über weite Strecken auf die Dreier-Konstellation.

Ich kenne einen anderen M. als Sie. M. im Kostüm des untreuen Ehemanns.

„Ich kenne einen anderen M. als Sie. M. im Kostüm des untreuen Ehemanns.“, lässt sie S. schreiben. Aber auch: „Vielleicht fantasiere ich jetzt, und M. taugte nicht mehr als die anderen. Über diese Wahrheit verfügen nur Sie.“

In ihrer Trauer wendet sich S. an den einzigen Menschen, von dem sie glaubt, in diesem Punkt eine Gemeinsamkeit zu haben. Doch auch dessen kann sie sich nicht sicher sein.

Postraumatische Psychose

Eine posttraumatische Psychose, so das Attest einer Psychologin nach S.s sechstägiger, filmreif endender Odyssee. Doch Adeline Dieudonné lässt offen, ob die Ärztin weiß, auf welche Weise ein Teil von M. für immer bei S. bleibt.

Adeline Dieudonné: Bleib. Aus dem Französischen von Sina der Malafosse. Roman, DTV, 256. S., 24 Euro.