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Premiere in BonnMusical „Chicago“ bietet pures Vergnügen und Eskapismus

Lesezeit 3 Minuten

Das Musical „Chicago“ feierte Premiere in Bonn. 

Bonn – Das haben wir uns verdient: die Theaterleute und das Publikum. Genauer: die geimpften, genesenen und getesteten Zuschauer, die sich nach langen Monaten der Entbehrung – manche sprechen von Entzug – endlich wieder in ein sinnliches, mitreißendes Kunsterlebnis stürzen durften. Nur wenige Plätze waren leer in der Bonner Oper, wo das 1975 erstmals aufgeführte Musical „Chicago“ von Fred Ebb und Bob Fosse (Buch), John Kander (Musik) und Fred Ebb (Liedtexte) in der Übersetzung von Erika Gesell und Helmut Baumann seine umjubelte Premiere feierte.

Der Neustart des Bonner Theaters bietet zweieinhalb Stunden pures Vergnügen, Eskapismus in ein Universum jenseits der Widrigkeiten des Alltags. Für eine schöne Weile kann man eintauchen in eine Zeit, die sich noch keine Gedanken über die Objektivierung schöner Frauenkörper gemacht hat.

Männer gehören aus dem Weg geräumt?

Sex-Appeal, wohin man blickt. Die Kunst von „Chicago“ zeigt sich tief dekolletiert. Bettina Mönch (Velma Kelly), Elisabeth Hübert (Roxie Hart) und Dionne Wudu (Mamma Morton) geben in dieser Hinsicht den Ton an. Aber auch alle anderen Mitglieder des Ensembles, gleich welchen Geschlechts, machen bella figura. Eine feministische Perspektive besitzt „Chicago“ ja auch. Konflikte mit Männern lösen die Frauen hier auf nachhaltige, allerdings nicht zur Nachahmung empfohlene Weise: Sie ermorden ihre Gegenüber.

Auf einen Blick

Das Stück: Kolportagehafte Krimi- und Beziehungshandlung sowie mitreißende Songs im Chicago-Jazz-Gewand.

Die Inszenierung: Regisseur Gil Mehmert gibt Vollgas, vergisst aber auch die Nuancen nicht.

Das Ensemble: Ein perfektes Team. (d.k.)

So entsteht der kolportagehafte Rahmen der Geschichte. Roxie hat ihren Geliebten erschossen, Velma den ihren und die eigene Schwester. Beziehungsstress. Nun sitzen sie im Gefängnis und hoffen darauf, dass der Anwalt Billy Flynn (Anton Zetterholm) ihnen den Weg in die Freiheit und auf die Showbühne eröffnet: als Sängerinnen mit krimineller Vergangenheit.

Regisseur Gil Mehmert und der Musikalische Leiter Jürgen Grimm geben sofort Vollgas. „All That Jazz“, der einzige auf Englisch gesungene Song, vereint herrlichen Chicago-Jazz, wunderbar bewegte Tanz-Körper (Choreografie: Jonathan Huor) und Bettina Mönchs opernsaalfüllenden Gesang auf eine Weise, die im Parkett die Glückshormone fließen lässt. Ins Zentrum der Drehbühne hat Jens Kilian ein Bett gestellt. Das spielt eine zentrale Rolle, als letzter Ort auf Erden für den fiesen Fred Casely (Tim Hüning). Roxie, die er als „heißes Gerät“ einordnet, schießt ihn ins Jenseits.

Kilian beweist Sinn für szenische Raffinesse und Witz, indem er „hinter Gittern“ mit mobilen Stangen veranschaulicht, die auch für eine Pole-Dance-Einlage taugen. Roxies aufgehübschte, vulgo: erfundene Lebensgeschichte inszeniert Regisseur Grimm wie im Kasperletheater: vor einer Bande sensationsversessener, endlos manipulierbarer Pressevertreter.

Die Musiker, die auf dem Besetzungszettel leider keine Spuren hinterlassen haben, liefern souverän das musikalische Fundament für die zahlreichen Hits des Musicals und übersetzen Gefühle in Töne. Mönch, Hübert und Wudu bringen Glitzer und Glamour auf die Showtreppe respektive ins Gefängnisinnere. Mönch verkörpert vulkanische Intensität. Hübert entwickelt sich von verfolgter Unschuld zu „Blonde Ambition“ à la Madonna. Wudu begleitet selbst anspruchsvollste Bühnenarbeit mit einem zauberhaften Lächeln. Und V. Petersen (Mary Sunshine) gibt als Frau auf der Mondsichel eine exaltierte Operndiva. Auch sie fällt als koloraturbegabte Klatschreporterin auf Zetterholms windig-gewinnenden Billy Flynn herein.

Der Abend wäre nicht komplett ohne den Mann, der gar nicht zu existieren scheint, durch den jeder durchschaut, als sei er aus Zellophan. Enrico De Pieri ist dieser Amos Hart, der nicht aufhören kann, seine Frau Roxie zu lieben, obwohl sie notlügt wie gedruckt. Das Publikum, das jedes Solo mit Beifall honorierte, feierte auch den Bonner Amos. Standing Ovations zum Schluss. Was sonst.

Nächste Aufführungen: 2. und 9. September, 3., 14. und 23. Oktober.