„Archetopia“ mit geringer Halbwertzeit: Simon Solberg arbeitet sich am Theater Bonn an Utopien ab.
Premiere am Theater BonnViel zu viel der guten Utopien

Szene aus „Archetopia“ im Theater Bonn.
Copyright: Bettina Stöß
Das war sportlich: 2000 Jahre Utopie-Geschichte in 90 Minuten. Simon Solbergs Theaterprojekt „Archetopia“ im Bonner Schauspielhaus war kein Marathon, sondern ein energiegeladener Sprint durch Zeiträume und Ideengebäude: ein von Livemusik begleitetes Best-of visionärer Entwürfe aus zwei Jahrtausenden. Und ein Blick in die Zukunft.
Die Reise startete im Innern eines holzgetäfelten Kreuzfahrtschiffes. Für Solberg (Regie und Bühne) repräsentiert das Schiff den Kapitalismus. Der feierte hier seine letzte Party; die Titanic ließ grüßen. Das Ensemble-Quintett – Julia Kathinka Philippi, Imke Siebert, Jacob Z. Eckstein, Riccardo Ferreira und Max Wagner – tanzte und sang sich die Seele aus dem Leib: mit Jennifer Lopez' „Let's Get Loud“, Reel 2 Reals „I Like To Move It“ und „Wannabe“ von den Spice Girls. Und natürlich mit „Das geht ab (Wir feiern die ganze Nacht)“ von den Atzen.
Jähes Ende im Bühnennebel
Die Feier fand im Bühnennebel ein jähes Ende. Die Aktivität orientierte sich nun auf einer Arche in Richtung Zukunft – unter Einbeziehung vergangener utopischer Modelle. Karl Marx, ehemals Student in Bonn, purzelte auf die Bühne. Thomas Morus, Autor des Romans „Utopia“ aus dem Jahr 1516, trat auf. Er blieb nicht allein.
Zu ihm gesellten sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die 1364 geborene Frühfeministin Christine de Pizan („Das Buch von der Stadt der Frauen“), Tommaso Campanella („Der Sonnenstaat“), die Mega-Kapitalisten Peter Thiel (Waterworld-Stadt) und Elon Musk (Weltraum), der Chemiker Michael Braungart, der Physiker Anders Levermann, die Philosophen Thomas Hobbes, Rousseau und Voltaire, eine Benediktinerin („Ora et labora“ – bete und arbeite), der Soziologe Max Weber (Protestantismus-Kapitalismus-These), der Soziologe Norbert Elias, der Naturforscher Charles Darwin, der niederländische Historiker Rutger Bregman, die russische Genetikerin Lyudmila Trut, der Anthropologe Joseph Henrich, der Offizier und Reisende Baron de Lahontan, der Jesuiten-Missionar Paul Le Jeune, der Archäologe David Wengrow, der Anthropologe David Graeber und der Essayist Nassim Nicholas Taleb.
Musik von Rihanna und Coldplay
Sie erschienen entweder in Gestalt der von einem ins andere Outfit (Kostüme: Ines Burisch) schlüpfenden Schauspieler oder in deren Reden ans Publikum. Identifizierbar wurden die aufgerufenen Utopisten qua Bild und Name durch Projektionen. Dazu spielte die fabelhafte Band – Jan Günther, Philip Mancarella und Samuel Reißen – Stücke wie Rihannas „Diamond“, „Fix You“ von Coldplay und „Auf und davon“ von Casper: „Ich bin raus, kann schon nach dem Ende ‘nen Anfang sehen.“
Das szenische Geschehen spiegelte die atemberaubende Themenvielfalt (eine Einladung für aufgeschlossene und neugierige Schulklassen). Thiel und Musk kriegten reichlich komödiantisches Fett ab: sehr lustig. Siebert und Philippi produzierten tanzend sexy Posen, schalteten dann ebenso geschmeidig in den musealen Agitprop-Modus um.
Frage nach der Finanzierung der Utopie
Lamento-Intensität, Prediger-Pathos und Endzeit-Geraune à la Extinction Rebellion (Philippi als schwarzer Engel) prägten den Abend. Ebenso wie die theatrale Polemik gegen Kapitalismus und Wirtschaftswachstum und das Plädoyer für Vier-Stunden-Arbeitstag und bedingungsloses Grundeinkommen. Immerhin kam einmal die Frage auf: „Wie wird das alles finanziert?“
Die Agenda der Theatermacher war klar; sie speiste sich aus tiefrot-grünen Positionen. Für sie ist die Welt einst an der falschen Stelle abgebogen, und jetzt müssen wir, so die Botschaft, mit Konsequenzen wie Ungleichheit und Klimakrise leben. Eine bewegende Geschichte entsteht aus diesem Befund nicht.
Spielfreudiges Ensemble
Die Schauspieler machen (verbal) Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Halbwertszeit der Einsichten und Eindrücke, an denen sie die Zuschauer teilhaben lassen, dürfte gering sein.
Alles wäre fast nichts ohne die unwiderstehliche Spielfreude und das leidenschaftliche Engagement der Akteure. Ihre Bühne ist abwechselnd die alte Welt, ein gegenwärtiges Trümmerfeld und – so viel Optimismus muss sein – eine von den Ideen des Abends genährte Zukunft.
Die bauen sie sinnbildlich auf wie eine revolutionäre Barrikade. Zur Musik von Casper: „Im Ascheregen“. Premieren-Begeisterung im Parkett.
90 Minuten (ohne Pause), wieder am 15., 23. und 26. Mai.