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Philosophie-StreitschriftAngst vor Schmerz – Vom Leben in einer Palliativgesellschaft

Lesezeit 3 Minuten
Pillen

Symbolbild

  1. Byung-Chul Han beschäftigt sich in dem schmalen Band „Palliativgesellschaft“ mit unserer modernen Gesellschaft, die dem Schmerz keinen Platz einräumen mag.
  2. Der Zwang zur Selbstoptimierung könne laut Han zu einer „daueranästhesierte“ Gesellschaft führen.
  3. Als Denkanstoß und Diskussionsanstifter hat dieses Heft aus der Verlagsreihe „Fröhliche Wissenschaft“ unbestreitbare Meriten, findet unser Autor.

Köln – Er hat schon die Burnout-anfällige „Müdigkeitsgesellschaft“ analysiert und legt die westliche Zivilisation nun erneut auf die Couch: „Palliativgesellschaft. Schmerz heute“ heißt die neue Streitschrift des Philosophen und Kulturwissenschaftlers Byung Chul-Han. Er sieht den Umgang mit körperlicher wie seelischer Qual als Chiffre für die jeweilige Zeit, und unser Gemeinwesen leide an „Algophobie“, Angst vor Schmerzen.

Als Auslöser dieser Erscheinung sieht er die neoliberale Leistungsgesellschaft, die keine Schwäche dulde. Dass Neoliberalismus als Leitstern arg verblasst ist, wird großzügig übersehen, und ohnehin bleibt für lückenlose Argumentationsketten kein Platz in der schmalen Broschüre.

Hans These: Nur eine „Dauerwohlfühl-Ideologie“ könne dazu führen, dass ursprünglich für Schwerstkranke reservierte Medikamente „in großem Stil auch an Gesunde verabreicht werden“. Der deutsche Intellektuelle mit koreanischen Wurzeln spielt da auf die Opioid-Krise in den USA an, wo leichtfertiger Umgang mit Fentanyl oder Oxycodon schon zum dramatischen Anstieg der Zahl von Drogentoten in der weißen Mittelschicht geführt hat.

Bei Nietzsche gehören Glück und Schmerz zusammen

Auch in Europa drohe eine „daueranästhesierte“ Gesellschaft. So wirbt ein Datingportal mit dem Slogan „Es ist ganz leicht, verliebt zu sein, ohne zu leiden.“ Einspruch, meint Han und verweist auf Friedrich Nietzsche. Für den waren Glück und Schmerz Zwillinge, „die entweder miteinander groß wachsen oder klein bleiben“. Mit Hans Worten: „Wird der Schmerz unterdrückt, so verflacht das Glück zu einer dumpfen Behaglichkeit.“

Der Philosoph unterscheidet drei historische Phasen: In der vormodernen „Gesellschaft der Marter“ zementierte der offen ausgestellte Schmerz der Gequälten die Macht ihrer Folterer. Die „Disziplinargesellschaft“ verlagerte dann die Knechtung der Körper diskreter in Gefängnisse, Kasernen und Fabriken.

Heute sieht Byung-Chul Han die Zeit des „hedonistischen Körpers“, der „sich selbst gefällt und genießt“, wobei Schmerz nur störe. Unerwünschte Nebenwirkung: Gerade die Algophobie führe zum ständigen Hineinhorchen in sich selbst, wobei Fitness-Apps und andere Geräte eine „digitale Hypochondrie“ beförderten.

Schmerz als Geburtshelfer des Großen

Für den 1959 in Seoul geborenen Denker ist Schmerz hingegen tief ins Menschsein eingeschrieben und nicht zuletzt Geburtshelfer großer Kunst. Der nicht nur von Asthma geplagte Marcel Proust bekannte etwa, er hänge an seinen Krankheiten, „und der Gedanke ist mir verhasst, sie könnten von mir gehen“. Erst das Leiden, so ergänzt Han, „bringt den Geist dazu, eine heilende Gegenwelt zur vorhandenen zu errichten“. Und Martin Heidegger galt Schmerz gar als „Tod im Kleinen“.

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Die sedierte Palliativgesellschaft aber habe, so Han, in der Pandemie nacktes Überleben „verabsolutiert“ und so „den Sinn für das gute Leben“ verspielt. Dass man Letzteres als Corona-Toter nicht genießen kann, kommt dem Philosophen nicht in den Sinn. Überhaupt führt sein rhetorisch brillanter Sturmlauf zur steilen These gelegentlich durch Schlaglöcher.

Dennoch: Als Denkanstoß und Diskussionsanstifter hat dieses Heft aus der Verlagsreihe „Fröhliche Wissenschaft“ unbestreitbare Meriten. Und die Seitenhiebe auf den Selbstoptimierungswahn sowie die Warnung vor einem „biopolitischen Überwachungsregime“ sitzen.

Byung-Chul Han: Palliativgesellschaft. Schmerz heute. Matthes & Seitz, 87 S., 10 Euro.