An der Bonner Oper holt Regisseur Vasily Barkhatov die 1903 in Mailand uraufgeführten Oper „Sibirien“ von Umberto Giordano in Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen in die Gegenwart.
Oper BonnReise von Rom nach Sibirien
Die Reise beginnt in Rom. Von dort aus macht sich im Jahre 1992 eine alte Dame auf den weiten Weg nach Russland. Wichtigstes Gepäckstück ist eine schlichte graue Urne, in der sie die Asche ihres jüngeren Bruders aufbewahrt. Nach ein paar in rascher Folge geschnittenen Filmsequenzen findet sie sich in einem postsowjetischen Treppenhaus in Sankt Petersburg vor einer Wohnungstür wieder.
Plattenbauten auf Gulag-Gelände
Sie drückt die Klingel. Als sie eintritt, steht sie plötzlich leibhaftig und in Farbe auf der Bühne der Bonner Oper. Bei der alten Dame handelt es sich um die Tochter von Stephana und Vassili, deren unglückliche Lebens- und Liebesgeschichte sie erforschen will, um irgendwann am Ende ihrer langen Reise die ganze Familie, der ein gemeinsames Leben verwehrt blieb, zumindest im Tod zu vereinen.
Was schließlich am Standort eines ehemaligen Gulags in Sibirien geschieht, wo jetzt trostlose Plattenbauten einen Kinderspielplatz säumen. Diese Geschichte erzählt Umberto Giordanos 1903 in Mailand uraufgeführte Oper „Sibirien“ (Libretto: Luigi Illica) so zwar nicht. In Bonn aber, wo sie als Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen zu sehen ist, schenkt der aus Moskau stammende Regisseur Vasily Barkhatov mit dieser frei erfundenen Rahmenhandlung der im Grunde ziemlich sentimentalen Handlung eine zusätzliche inhaltliche Ebene.
Es geht hier um Fragen der Herkunft und Identität und um die Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Geschichte des eigenen Landes, der man nicht aus dem Weg gehen kann. Die ursprüngliche Erzählung dreht sich um die Luxus-Kurtisane Stephana, die ihr bisheriges Leben aufgibt, um ihrer großen Liebe Vassili ins Straflager nach Sibirien zu folgen. Er hatte dem Fürsten Alexis, Stephanas unsympathischem Gönner, in Rage einen heftigen Schlag auf die Nase verpasst.
Blutige Nase
Dass die Regie den tödlichen Ausgang des Streits in Nasenbluten abmildert, darf man als Verweis auf eine Willkürherrschaft im Land verstehen, wo auch leichtere Vergehen harte Folgen nach sich ziehen können. Schauplatz des Streits ist ein vornehmes Stadtpalais in Sankt Petersburg, in das sich die schmucklose Wohnung dank ausgefeilter Video-Projektionstechnik vor den Augen des staunenden Publikums verwandelt hatte.
Bühnenbildner Christian Schmidt gelingt hier eines der zahlreichen visuellen Meisterstücke, die man an diesem Abend zu sehen bekommt. Im letzten Akt verbindet er durch eine solche Überblendung auf genialische Weise das sibirische Arbeitslager auf der einen und die Vision des Stadtpalais, das Stephana in Gestalt ihres ersten Kupplers Gleby wieder einholt, auf der anderen Seite. Der Regie gelingt es auf beeindruckende Weise, die Rolle der von Clarry Bartha stark gespielten Figur der alten Frau mit dem Fortgang der Handlung zu verflechten, wenn sie beispielsweise nach aussagekräftigen Unterlagen in den Lager-Archiven sucht. Die befinden sich in zwei riesigen Regalen, die sich im Bühnenhintergrund vor den Anblick der schier endlosen sibirischen Tundra schieben. Sogar singen darf sie, wofür ihr Barkhatov Teile der Partie ihrer Tochter und einige Stücke aus kleineren Rollen zur Verfügung stellt.
Musikalisch ist Giordanos „Sibirien“ feinster, schnörkelloser Verismo-Stoff, der immer schnell auf den Punkt kommt. Für die drei Akte benötigt der Komponist nicht mehr als 105 Minuten. Die aber sind vollgepackt mit heftigen Ausbrüchen, die von dem Protagonisten-Paar Yannick-Muriel Noah (Stephana) und George Oniani (Vassili) Stimmbänder aus Stahl verlangen.
Ganz besonders hervorzuheben ist auch der Bariton Giorgos Kanaris, der musikalisch wie darstellerisch jede Nuance der Niedertracht in Glebys Charakterbild auszukosten versteht. Orthodoxe Gesänge Auch Susanne Blattert (Nikona), Santiago Sánchez (Alexis) sowie Johannes Mertes, Michael Krinner, Martin Tzonev und Juhwan Cho machen ihre Sache ausgezeichnet.
Vorbildliche Chorarbeit
Der von Marco Medved einstudierte Chor leistet ebenfalls Vorbildliches. Dass es sich bei „Siberia“ um eine italienische Oper handelt, ist nicht zu überhören. Auch nicht, dass sie in Russland spielt. Die Quinten im leisen Chorgesang des Anfangs erinnern an orthodoxe Gesänge, das Lied der Wolgaschlepper zieht sich wie ein Leitmotiv durchs Stück und gegen Ende vernimmt man Klänge wie von Balalaikas.
All diese Facetten und auch die verismotypische Ausdruckswucht liegen beim Beethoven Orchester und dem Ersten Kapellmeister Daniel Johannes Mayr in allerbesten Händen. Jubel und Bravorufe gab's nach der Premierenvorstellung am Sonntagabend für alle Beteiligten.
Wieder: 18. und 31.3.; 2. und 20.4; 3. und 9.6.; Karten und Infos: www.theater-bonn.de.