Im Nachlass des 2018 verstorbenen Kölner Autors Dieter Wellershoff fanden sich viele unveröffentlichte Texte. Daraus entstand jetzt das neue Buch "Verborgene Texte des Lebens".
Tipps für Kanzler und KriminelleNeues Buch von Dieter Wellershoff erscheint

Dieter Wellershoff im Jahr 2015 vor der Bücherwand in seiner Wohnung in Köln.
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Als er seinen 65. Geburtstag feierte, so erinnert sich Irene Wellershoff, hatte ihr Vater beschlossen, mit dem Schreiben aufzuhören. Es sei ihm zu anstrengend geworden, er werde jetzt nur noch das tun, was ihm Spaß mache. Nur wenig später habe er von der Arbeit an einem neuen Roman erzählt und, auf seinen „guten“ Vorsatz angesprochen, geantwortet: „Schreiben ist nun mal das einzige, was mir wirklich Spaß macht.“
Wer sich einen Überblick über Wellershoffs ebenso umfangreiches wie vielseitiges Werk verschafft, glaubt das sofort. Und er bezweifelt auch nicht, dass nach seinem Tod im Jahre 2018 beim Aufräumen große Mengen noch unbekannter Briefe, Exposés, Prosa-Miniaturen, Gedichte und sogar vollständige Erzählungen gefunden wurden. „Damit machen wir was“ hatte Irene Wellershoff dem Germanisten Werner Jung, einem Experten für das Werk des Wahlkölners, vorgeschlagen.
So entstand das Lesebuch „Verborgene Texte des Lebens“, das jetzt im Aisthesis Verlag erschien und die unterschiedlichsten Textsorten zusammen mit Faksimiles von kurzen Schriften, Fotos aus unterschiedlichen Lebensphasen und Zeichnungen des Autors in chronologischer Reihenfolge präsentiert.
Wellershoff schreibt einem Strafgefangenen
Als Herausgeber Werner Jung den Band zum 97. Geburtstag von Dieter Wellershoff gemeinsam mit dessen Tochter und dem Sprecher Bernt Hahn im Literaturhaus vorstellte, wurde deutlich, dass nun neben interessanten Entdeckungen und Ergänzungen des Werks auch ein handlicher Überblick über die verschiedenen literarischen und intellektuellen Interessen sowie die unterschiedlichen, den jeweiligen Schriften gemäßen Stil- und Ausdrucksformen Wellershoffs vorliegt.
Aber auch ein Zeugnis der persönlichen Integrität des Autors. So antwortete er ausführlich, respektvoll und sachlich in die Tiefe gehend auf die Fragen seiner Leser. Besonders eindrucksvoll ist der Brief an einen Strafgefangenen, dem Wellershoff klarmacht, dass das eigensinnige Bestehen auf der Erfüllung unrealistischer Wünsche der Grund für dessen Abrutschen in die Kriminalität sein und eine gesunde Selbsterkenntnis den Neustart ermöglichen könnte.
Beunruhigend aktueller Brief an Helmut Kohl
Am Tag zuvor hatte Wellershoff Bundeskanzler Helmut Kohl darauf hingewiesen, dass Ökologie das große Thema der Zeit sei und die Proteste der Jugend gegen die Zerstörung ihrer Zukunft nur allzu verständlich seien, weil die Politik zu wenig tue. 1988 schrieb Wellershoff diesen Brief, und er klingt beunruhigend aktuell.
In seinen literarischen Arbeiten aber vermied Wellershoff, anders als viele seiner Kollegen in den 60er und 70er Jahren, strikt das Moralisieren, die politische Stellungnahme, gar die ideologische Indoktrination. Seine Version des literarischen Realismus ist von tiefer Skepsis gegenüber politischen oder religiösen Heilslehren gekennzeichnet, häufig schildert er das Alltagsleben aus unterschiedlichen, gleichberechtigten Perspektiven von Menschen, die aufgrund ihrer Prägungen und Vorurteile in Konflikt mit dieser ungewissen und immer gefährlichen Realität geraten.
Eine Grundhaltung und auch eine Poetik, die Kölns vielleicht bedeutendster Autor vermutlich aus dem Zweiten Weltkrieg mitgebracht hatte, als er schwer verwundet wurde. Man spüre zwar den „Sog der Verführung zum Leben hin“, zitierte Werner Jung einen Rezensenten, aber man meine auch, die Granate, die ihn verletzte, „in allen seinen Büchern noch pfeifen zu hören“.
„Verborgene Texte des Lebens“: Dieter Wellershoff – ein Lesebuch. Aisthesis Verlag, 350 S., 28 Euro.