Autor Ulrich Woelk erzählt in seinem neuen Roman von einer renommierten Berliner Professorin, die sich plötzlich ihrer Vergangenheit als Aktivistin stellen muss.
Neuer Roman von Ulrich Woelk„Mittsommertage“: Das Dilemma des politischen Aktivismus
Was, wenn die Zukunft einfach zu groß ist für die Ethik? All die drängenden Fragen: massenhafte Datenspeicherung, künstliche Intelligenz, das Tierwohl, der Klimawandel — und was ist legitim, um die zunehmende Erderwärmung aufzuhalten? Ruth Lember, Professorin in Berlin, Mitte 50, zweifelt zunehmend in dieser heißen Sommerwoche, die doch eigentlich die ihre werden sollte. Immerhin wird sie in den Ethikrat der Bundesregierung berufen. Es ist die akademische Krönungsmesse, die letzte Etappe auf ihrem beharrlich verfolgten Karriereweg.
Wenn nur dieser ärgerliche Hundebiss nicht wäre. Der blutige Konflikt mit dem Tier steht am Anfang des Romans „Mittsommertage“ von Ulrich Woelk. Die etablierte Hochschullehrerin verlässt voller Tatendrang die schicke Dachgeschosswohnung im Zentrum von Berlin, die sie mit ihrem als Architekt nicht minder erfolgreichen Partner Ben bewohnt, um zur morgendlichen Joggingrunde im Park aufzubrechen.
Wohlstandsgebäude gerät ins Wanken
Der Hund, dem sie begegnet, ist nicht angeleint, noch dazu angriffslustig. Die Wunde in der Wade mutet zunächst harmlos an, doch sie bringt die Dinge eigenartig ins Wanken. Es wird immer heißer an den längsten Tagen des Jahres und mit jedem Tag geraten mehr Stützpfeiler in Lembers Wohlstandsgebäude ins Wanken.
Der zentrale betrifft ihre eigene Vergangenheit. Als Studentin in Marburg hat sie in den 80er Jahren — wie die Klimaaktivisten heute — zivilen Ungehorsam praktiziert und ihrer damaligen Protestliebe beim Stürzen eines Strommastes in regnerischer Nacht assistiert. Derart radikales Handeln harmoniert so gar nicht mit der würdevoll abwägenden Tätigkeit des Ethikrates.
Ruth Lember hat das Kapitel innerlich längst aus ihrer Vita getilgt und alte Bekennerschreiben erfolgreich verdrängt. Doch plötzlich sitzt der verflossene Kommilitone von einst im Hörsaal. Und er belässt es nicht dabei. Die Bewegung „Fridays for Future“ habe ihn zu seinem Buch inspiriert, sagt Woelk, übrigens selbst studierter Philosoph und Physiker. Seit den 90er Jahren zählt er zu den markanten deutschen Erzählerstimmen.
Ulrich Woelk erzählt auch von historischen Ereignissen
Wie so häufig verwebt er die Geschehnisse mit einem gut abgelegten Gewebe der Vergangenheit. In „Nacht ohne Engel“ dienten der Golfkrieg und ein Anschlagsplan auf die Berliner Siegessäule als Hintergrundfolie, in „Rückspiel“ griff er die Studentenproteste der 68er Jahre auf. Im Kern dreht sich „Mittsommertage“ um die innere Haltung, den Konflikt zwischen dem vermeintlich „guten“ Handeln und dem Zwang zu Kompromissen, der gesellschaftliches Leben nun einmal ausmacht. Und natürlich der Frage, was die Ideale von früher heute noch zählen.
Außerdem fragt sich die Professorin mit zunehmender Zeit, ob sie damals die richtige Weggabelung genommen hat, als sie dem stürmischen Liebhaber nicht folgte. Wie schon in „Der Sommer meiner Mutter“ und „Für ein Leben“ steht die Frau im Zentrum der Erzählung. Woelk hebt seine Hauptfigur zu Beginn in die schwindelnden Höhen moralischer Zweifelsfreiheit und markiert damit zugleich ihre Fallhöhe.
Ausgelotet wird die auch von der jungen Jenny, der Tochter ihres Lebensgefährten, die erkennt, dass sie möglicherweise zur Letzten Generation zählt, ganz sicher aber nicht zur ersten, die zum Klimaprotest aufruft. Sie schaut mit ungleich größerer Begeisterung auf Ruths Vergangenheit als die indignierte Professorenschaft.
All das erzählt der 62 Jahre alte Woelk mit einer angenehm unaufgeregten Stimme und in wohl dosiertem Tempo. Die Ethikprofessorin muss die ganze Wucht von brodelnder Erdatmosphäre und privatem Gefühlstsunami schultern. Die Wunde in der Wade ist am Ende das geringste Problem.
Lesung in Köln
Autor Ulrich Woelk liest am Donnerstag, 24. August, ab 19 Uhr im Literaturhaus Köln, Großer Griechenmarkt 39, aus seinem neuen Roman. Die Tickets gibt es für online für elf Euro (ermäßigt neun Euro) zuzüglich Vorverkaufsgebühren.
Ulrich Woelk: Mittsommertage. C.H. Beck, 285 S., 25 Euro.