Zehn Charaktere versuchen, der Pest zu entkommen und geraten in eine Fülle von erotischen Eskapaden. Ein farbenfrohes Ensemble huldigt der überdrehten Komödie und dem burlesken Mittelalterspaß.
Vergnügen oder durchgeknallter Unsinn?An der Netflix- Serie „The Decameron“ scheiden sich die Geister
Was passiert, wenn übellaunige Vorfahren der Bridgertons mit der Truppe Monty Python im Mittelalter aufeinandertreffen, in anderen Worten hochherrschaftlicher Ringelpiez (mit ausführlichem Anfassen!) auf durchgeknallten Blödsinn? Netflix gibt derzeit die Antwort mit der neuen Serie „The Decameron“.
Und wer bei diesem Titel eine werkgetreue Verfilmung von Giovanni Boccaccios Klassiker „Il Decamerone“ (1348-1353) erwartet, sollte möglichst schnell das Weite suchen. Denn Autorin Kathleen Jordan hat im Prinzip nur die Rahmenhandlung der Vorlage verwendet – und daraus sehr abgedrehte Irrungen und Wirrungen entwickelt.
Wie man sich die Pest am besten vom Hals hält
Wie Boccaccio versammelt sie zehn Menschen auf einem Landgut in der Nähe von Florenz, die sich nicht mit der Pest infizieren wollen. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählen sie sich Geschichten — zehn mal zehn an der Zahl, was dem Original seinen Titel gibt und das eigentliche Werk ausmacht. Boccaccio gilt damit als Vorreiter für spätere Bücher wie etwa Chaucers „Canterbury Tales“ oder Wilhelm Hauffs Märchenalmanache.
In der Serie spielen die Schwänke und bisweilen derben Anekdoten keine wesentliche Rolle – fürs durchaus erotische Drunter und Drüber sorgt das Hin und Her der Hauptfiguren.
Als Filomena (Jessica Plummer) und ihre Dienerin Licisca (Tanya Reynolds aus „Sex Education“) eine Einladung erhalten, den Grafen Leonardo in seinem Landhaus zu besuchen, nehmen sie die Einladung an. Zum einen können sie so aus dem Pest-verseuchten Florenz fliehen, zum anderen könnte Leonardo einen potenziellen Heiratskandidaten für Filomena abgeben. Vor Ort lässt sich der Hausherr von seinem Diener Sirisco (Tony Hale, „Veep“) entschuldigen. Dafür ist aber auch die Verlobte des Grafen aufgetaucht: die ziemlich durchgeknallte Pampinea (Zosia Mamet) mit ihrer lesbischen Zofe Misia (Saoirse-Monica Jackson, „Derry Girls“), der hypochondrische Tindaro (Douggie McMeekin), sein eher auf sein Äußeres bedachter Leibarzt Dineo (Amar Chadha-Patel), ein frisch verheiratetes Pärchen (Lou Gala und Karan Gill) sowie die schnippische Köchin Stratilia runden das Ensemble ab.
Was die Gäste nicht wissen: Der Hausherr weilt seit ein paar Tagen bereits im Jenseits und der Großteil der Dienerschaft ist ebenfalls der Pest erlegen. Was der Zuschauer bis zum Ende nicht versteht: Warum lädt man sich Gäste in sein Haus, wenn sie doch die Seuche einschleppen könnten? Es sei nicht zu viel verraten: Das genau tut nämlich der eine respektive die andere.
Aber mit solch essenziellen Fragen plagen sich die aus ihrer Sicht leidgeprüften Adeligen nicht herum, und deren Untergebene schon mal überhaupt nicht. Man ist viel zu sehr damit beschäftigt, Hierarchien auszuloten, Lügen aufzutischen und aufzudecken und sich amourösen Verstrickungen hinzugeben.
Und wie das schon mal vorkommt: Während man zunächst denkt, dass man sich den bisweilen grob gehobelten Unsinn eigentlich nicht antun muss, kommt man doch irgendwann an den Punkt, dass man wissen will, wie es weitergeht. Müsste man in guter alter Analog-Tradition eine Woche bis zur nächsten Folge warten, der Einschaltknopf bliebe vielleicht schneller, als man Boccaccio buchstabieren kann, unberührt. Doch so fließen die insgesamt acht Folgen fast unmerklich ineinander – auch weil man per Tastenbefehl den doch ziemlich gruseligen Vorspann vor jeder Episode überspringen kann.
Aber der hat es wirklich in sich: Während die Spielszenen mit üppiger Ausstattung (der labyrinth-artige Garten ist ein grüner Traum, Leonardos Kellerversteck ein eher feuchter) und grell-bunten Kostümen aufwarten, setzen die Macher für das Intro auf schlichtes Schwarz-Weiß: Heerscharen von gezeichneten Ratten schwirren über den Bildschirm, formieren sich zu immer neuen Gefügen – in einer kalte Schauer den Rücken herunterlaufen lassenden Intensität.
Doch es ist letztens Endes nicht die beim Binge-Watching entstehende Sucht, die bei der Stange hält: Ohne Ausnahme sieht man dem Ensemble an, wie viel Spaß sie an diesem überdrehten Klamauk haben. Ihre Lust am Chargieren tarieren sie allesamt derart wohltemperiert aus, dass sich die Frage nach der Rechtfertigung, sich dieser Albernheit hinzugeben, sehr schnell nicht mehr stellt.