Navid Kermanis neues Buch „Das Alphabet bis S.“ erzählt von der Liebe zur Weltliteratur.
Navid Kermanis neuer RomanLieber das Deo vergessen statt Dickinson
„Manche lieben das Leben, ich ziehe die Lektüre vor“, soll der britische Aphoristiker Logan Persall Smith (1865-1946) geschrieben haben. Und es ist kein Zufall, dass Navid Kermani ihn nicht direkt zitiert, sondern den französischen Schriftsteller Julien Green (1900-1998), der seinerseits schon Smith zitierte: Ist die Literatur doch ein ganz eigener Kosmos, in dem alles Geschriebene über Zeit- und Ländergrenzen hinweg Kreise zieht.
Schon in Navid Kermanis Bestseller „Sozusagen Paris“ (2016) kam ihr eine besondere Bedeutung zu. Ein Autor begegnet darin nach 30 Jahren seiner ehemaligen Schulhofliebe wieder, und während die beiden sich in einer Nacht ihr Leben erzählen, greift er immer wieder ins Regal und rezitiert Balzac, Flaubert, Zola. Auch im neuen Buch von Kermani wird, noch extremer, das reale Leben mit der Literatur abgeglichen.
Ein persönlicher Kanon, immer zum Leben erweckbar
„Das Alphabet bis S“ ist, anders als auf dem Cover steht, kein Roman: Dafür ist die Geschichte zu dünn. Trotzdem ist es ein exzellentes Buch. Im Zentrum steht eine namenlose Ich-Erzählerin, die mit dem 1967 in Siegen geborenen Navid Kermani mehr als nur die deutsch-iranische Herkunft und den Wohnsitz in Köln gemein hat.
Über 365 Tage hinweg, unterteilt in Kapitel, die den vier Jahreszeiten entsprechen, bekommt der Leser Einblick in ihr Leben und durchlebt mit ihr Krisen, etwa den Tod der Mutter, die Trennung vom Ehemann, die lebensbedrohliche Streptokokkeninfektion des Sohnes. Um mit all dem klarzukommen, sucht sie in ihrem alphabetisch geordneten Bücherregal nach Antworten, Halt und Orientierung: „So schön, seine Tage zwischen Büchern verbringen zu dürfen, jederzeit zum Leben erweckbaren Toten, absichtslos wie im Paradies.“ Resultat ist ein ganz persönlicher Kanon der Literatur. Leben und Gelesenes durchmischen sich.
Bitte keine Pfarrhausliteratur
„Deo vergessen, aber an Dickinson gedacht“, notiert die Erzählerin, wenn sie auf den fahrenden Zug springt und zum Glück die Lektüre eingepackt hat. Navid Kermanis Buch ist ein brennendes Bekenntnis zum Leben des Geistes. Er schreibt über die großen Themen, über Leben und Tod, Liebe und Hass, und gleicht die Stimmen der Weltliteratur mit seiner eigenen ab.
„Pfarrhausliteratur von Andersch bis Zeh“ mag seine Erzählerin nicht, der kalte Ernst Jünger ist ihr lieber als Handke, Grass und Walser. Peter Altenbergs Sexismus findet sie trostlos, dessen Pädophilie abstoßend, trotzdem habe er Sätze wie den geschrieben: „Wir trauern um unser eigenes Ich, das im Drang des Lebens verkrüppelt.“
Und Emil Ciorans Ennui möge mitunter zwar ermüdend sein, doch wie viel Erkenntnis stecke in einem Gedanken wie dem: „Es ist offenbar, dass Gott eine Lösung war und dass man niemals eine andere finden wird, die so befriedigend ist.“ Eigenbrötler waren diese Schriftsteller allesamt. Dennoch sprechen sie mit jedem ihrer Leser.
Zentrale Glaubensfragen
Immer wieder geht es um Fragen des Glaubens, wie so oft bei habilitierten Orientalisten Navid Kermani. Bereits in seiner Dissertation „Gott ist schön“ schrieb er 1999 über das ästhetische Erleben des Koran, später veröffentlichte er Titel wie „Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen“ (2014) oder, 2022, „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott“ . Die Erzählerin im „Alphabet bis S.“ sucht in den Suren des Koran ebenso nach Antworten wie in der offenen Andacht in der Kölner Kirche Groß Sankt Martin.
Ähneln die Fragen nicht eh einander, egal um welche Religion es sich handelt? Kermani einmal mehr der Kulturvermittler zwischen Orient und Okzident. Vor allem aber ist er ein echter Liebhaber der alles und alle miteinander verbindenden Literatur. Über Klimawandel, Migration, Gentrifizierung, Krieg reflektiert die Erzählerin. Und übers Schreiben.
Ein Köln-Roman der Postmoderne
Allen möglichen Einwände nimmt Kermani mit einem passenden Zitat Kritikern den Wind aus den Segeln. Beanstandungen, die weibliche Perspektive in seinem Text sei nicht überzeugend, kontert er ebenso wie den Vorwurf, er klaue bei den Großen der Weltliteratur. Das Buch ist so auch ein bekennendes Werk der Postmoderne.
Zu guter Letzt lässt sich „Das Alphabet bis S“ auch noch als Köln-Roman rezipieren: Der bei Nacht beleuchtete Dom hat darin ebenso seinen Platz wie die Nachkriegsbebauung, das eingestürzte Stadtarchiv oder der Karneval, in dem das Viertel zu einem verstopften Urinal verkomme.
„Wahrscheinlich steht der Grad des Lokalpatriotismus nirgends auf der Welt in einem solchen Missverhältnis zum Stadtbild wie hier – das wenigstens ein Superlativ“, schreibt Kermani. Alle Achtung! Humor hat er also auch noch.
Navid Kermani, Das Alphabet bis S., Roman, Hanser, 592 S., 32 Euro.