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Morden im NordenDiese Krimis aus Skandinavien und Island bieten ordentlich Spannung

Lesezeit 5 Minuten
Rentiere in Schweden

Rentiere in Nord-Schweden

Krimis und Spannungsliteratur aus dem Hohen Norden bleiben nach wie vor hoch im Kurs. Axel Hill hat Bücher von alten Bekannten und Neuentdeckungen aus Schweden, Dänemark, Finnland und Island gelesen.

Halmstad/Süd-Schweden

„Die Toten kommen ohne uns zurecht. Wir sind es, die sie brauchen.“ Denn nachdem er den Polizeidienst quittiert hat, ist es ein alter Fall, den auch sein Vater nicht lösen konnte, der Vidar Jörgensson wieder ermitteln lässt: In derselben Nacht, in der auch Schwedens Ministerpräsident Olof Palme mitten in Stockholm auf der Straße niedergestochen wird, meldet sich im südschwedischen Halmstad ein Mann bei der Polizei, um eine Vergewaltigung zu melden, die er gerade begangen habe. Das Opfer wird gefunden, der Täter nicht.

Dann hatte Vidar das Gefühl, Zutritt zu einem geheimnisvollen Fragment der Wirklichkeit zu erhalten...

Christoffer Carlsson konstruiert in „Was ans Licht kommt“ (Rowohlt, 496 S., 23 Euro) nicht nur eine verblüffende, spannende Krimihandlung, sondern tut dies mit einer Sprachgewandtheit, die noch einmal mehr in die Geschichte hineinzieht.

Reykjavík/Island

Der Ton von Arnaldur Indriðason ist unverkennbar: klare Formen, Sätze, die auf Spielchen verzichten, trocken, nüchtern, fast ein wenig verstockt, wie seine Helden. In „Wand des Schweigens“ (Lübbe, 400 S., 22,90 Euro) ermittelt zum vierten Mal der pensionierte Kommissar Konráð, der immer noch versucht herauszufinden, wer seinen Vater, einen Reykjavík-bekannten Kleinkriminellen, vor 50 Jahren erstochen hat.

Als würden die Mauern des Hauses immer näher kommen, über ihr zusammenstürzen und sie schließlich verschlingen.
Zitat aus „Wand des Schweigens“.

Seiner guten Freundin Eyglo machen wieder einmal ihre übersinnlichen Fähigkeiten zu schaffen: Als in einem Keller hinter einer Wand eine Jahrzehnte alte Leiche gefunden wird, stellt sie fest, dass sich schon einmal in diesem Haus war – und schon damals ein sehr ungutes Gefühl hatte. Fast beiläufig verknüpft Indriðason die verschiedenen Handlungsfäden – und weil die isländische Hauptstadt auch heute fast noch ein Dorf ist, ergibt das alles einen Sinn.

Bornholm/Dänemark

Bereits zum fünften Mal ermittelt Katrine Engbergs Duo Anette Werner und Jeppe Kørner – und nach einem Durchhänger läuft die dänische Autorin auch mit „Wintersonne“ (Diogenes, 432 S., 22 Euro) wieder zu Höchstform auf. Denn neben einer spannenden Krimihandlung, in deren Mittelpunkt eine der Länge nach in zwei Teile zersägte Leiche steht, zieht sie eine weitere Ebene ein.

Wenn er doch nur richtig sehen könnte, dann ließen sich die Kabelbinder um seine Handgelenke vielleicht lösen, vielleicht konnte er die Säge stoppen. 
Zitat aus „Wintersonne“.

Jeppes Freundin Esther sucht nach dem Tod ihres Mitbewohners Gregers Trost in der Arbeit: Im Haus einer Ethnologin will sie Recherchen für eine Biografie betreiben. Die Briefe, die sie dabei durchforstet, zeichnen das Bild einer alleinerziehenden Mutter und Wissenschaftlerin, die sich gegen Widerstände in den 70er und 80er Jahren behaupten muss, um schließlich daran zu scheitern. Und der letzte Brief hält auch für Esther eine Überraschung parat.

Göteborg/West-Schweden

Die Zeiten als hier noch Seeleute in Quarantäne gehen mussten, bevor sie das Festland betreten durften, sind im Jahr 1925 lange vorbei. Jetzt dreht es sich auf der „Pestinsel“ (Insel Verlag, 336 S., 16,95 Euro) in den Schären vor Göteborg nur noch um einen Mann: den Mörder Arnold Hoffman, der aus Sicherheitsgründen hier gefangen gehalten wird.

Aber das Auffälligste war unter seinem Gesicht zu sehen: Um den Hals des Mannes herum verlief eine Furche geronnenen Bluts.
Zitat aus „Die Pestinsel“.

Als in Göteborg Menschen gefunden werden, die nach seiner „Spezialmethode“ stranguliert worden sind, landet der junge Hauptkommissar Nils Gunnarsson mit seinen Ermittlungen schnell an den Ufern des öden Eilands – und vor der sprichwörtlichen Mauer des Schweigens. Denn für die Insulaner geht es auch um die eigene Existenz. Wenn Hoffman wieder aufs Festland verlegt werden sollte, verlieren sie alle ihre Jobs und viel wichtiger: das Stück Erde, das ihnen bislang Heimat bedeutete.

An die Seite des etwas spießigen Nils stellt Autorin Marie Hermanson das, was man in den 20er Jahren einen Flapper nannte: die junge, forsche Ellen Grönblad, die sich eigentlich von Nils getrennt hatte, aber nun für ihn undercover im Umfeld des Mörders ermittelt – und sich dabei natürlich früher oder später in Lebensgefahr befindet.

Sápmi/Nord-Schweden

Rentiere sind für die Samen Lebensgrundlage, das Leben vieler Familie richtet sich nach den Vierbeinern. Elsa ist ein kleines Mädchen, als sie erleben muss, wie ein Mann ihr Rentier tötet – und droht, ihr und ihrer Familie etwas anzutun, sollte sie seinen Namen nennen. Dieses Trauma begleitet sie, bis sie als junge Frau gelernt hat, sich zur Wehr zu setzen.

Du gehörst mir nicht, Du bist Deine eigene Herrin. Du wirst mir nur ausgeliehen.
Satz der Samen zu ihren Rentieren.

Ann-Helén Laestadius ist gebürtige Sami und hat bislang Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben. „Das Leuchten der Rentiere“ ist gleichermaßen Coming-of-Age-Roman und Schilderung einer Kultur, die über Jahrzehnte von der schwedischen Mehrheitsgesellschaft brutal unterdrückt wurde und immer noch mit Vorurteilen, Benachteiligung und Repressalien zu kämpfen hat. Darauf deutet auch der nicht so Pilcher-hafte Originaltitel hin: Als „Stöld“, Diebstahl, wird das Verbrechen betrachtet, wenn jemand ein fremdes Rentier tötet. Für die Samen hingegen ist es Mord.

Helsinki/Finnland

In einer sehr nahen Zukunft siedelt Tuomas Oskaris „Tage voller Zorn“ (Lübbe, 576 S., 24 Euro) an: Die konservative finnische Regierung unter der Leitung des jungen, von grauen Eminenzen gelenkten Leo Koski hat in der Folge einer existenziellen Wirtschaftskrise mehr oder minder alle Sozialleistungen gestrichen, sogar die Mittelklasse stürzt nun ins Bodenlose. Gleichzeitig entsteht die „Linke Bewegung“, abgeführt von der charismatischen Emma Erola, die Gerechtigkeit für alle Klassen verspricht. Ihr Rezept: ein auf künstlicher Intelligenz basierendes Wirtschaftssystem, in dem nicht dieselben Fehler wie in der Sowjetunion oder im Ostblock gemacht werden sollen.

Wer hätte noch vor einem Jahr gedacht, dass Demonstranten jemals eine Barrikade an Helsinkis wichtigster Einfallstraße errichten werden?
Zitat aus „Tage voller Zorn“.

Doch auch Erola agiert nicht autark, und die Kräfte, die hinter ihr stehen, könnten das Land in eine noch tiefere Krise stürzen. Oskari lässt die auf gut 48 Stunden komprimierte Kernhandlung immer wieder Haken schlagen und treibt sie mit überraschenden Wendungen auf einen schonungslosen Showdown zu. Brillant.