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Blick auf das KleinbürgertumMartin Becker reflektiert in seinem Roman „Die Arbeiter“ die Zivilgesellschaft

Lesezeit 4 Minuten
Martin Becker sitzt vor einem Mikrofon.

Schonungslos, aber liebevoll berichtet Martin Becker über die Arbeiterfamilie, aus der er stammt.

Der Kölner Autor beschäftigt sich in seinem neuen Roman mit der Geschichte seiner Familie.

Welche Gerüche erinnern uns an die Kindheit? Wenn es der Zigarettenqualm im Auto ist, weiß man schon, was für eine Kindheit das sein könnte. Bei Martin Becker war es eine, die sich im kleinstädtischen Milieu im Sauerland abspielte. Die Eltern malochen von früh bis spät. Der Vater steht am Schmiedehammer in der Fabrik. Man spart sich alles vom Munde ab, und doch gelingt es ein Leben lang nicht, das Reihenhaus abzubezahlen. „Eine Familie von Bergleuten. Eine Familie von Arbeitern. Eine arme Familie. Eine stolze Familie. Eine Familie, die es nicht leicht hatte“, sagt Martin Becker.

Mit seinem autofiktionalen Roman „Die Arbeiter“ kam der 42-Jährige jetzt ins Literaturhaus und stellte sich dem Gespräch mit Studierenden der Universität Köln. Unter Leitung von Tilman Strasser, ihrem Dozenten für literarisches Schreiben, hatten sich die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer auf die Moderation vorbereitet. Mit ihren neugierigen, wohlgesetzten Fragen trugen sie das ihre zu einem Abend bei, der stets intensiv und nah am Gegenstand blieb.

Dazu gehörten auch Fragen ans Publikum, wenn man etwa Auskunft darüber einholte, ob in der Familie an den großen Lottogewinn geglaubt wurde oder wohin der typische Familienurlaub führte. Plötzlich war man ganz nah dran, an dem Zwiespalt einer Gesellschaft, die mehr verspricht, als sie einlöst.

Martin Becker erzählt von der Generation kleiner Leute, die immer davon träumte, dass es ihr besser gehen würde, aber diesen Zustand nie erreichte. Selbst als die Mutter dann doch einmal eine Reise gewinnt, verschenkt sie die „wegen der Kinder“.

Liebevolle Eltern mit Ecken und Kanten

Seinen Vater kennzeichnet Becker als „den perfekten Männerdarsteller in einem Kaurismäki-Film“. Ein Vergleich, der genau jene Balance zwischen Tragik und Komik bezeichnet, die seinen Roman zu einem so faszinierenden Leseerlebnis macht.

So erzählt er etwa vom Versuch der damals noch kinderlosen Eltern, eine Tochter zu adoptieren. Nachdem sie unzählige Absagen erhalten haben, schickt ihnen das Jugendamt ohne vorherige Absprache ein schwerstbehindertes Mädchen.

Eine Tatsache, die den Eltern zunächst nicht auffällt. Als sich das Jugendamt dann entschuldigen will und anbietet, das Kind zurückzunehmen, rasten die Eltern aus. Abgöttisch lieben sie dieses Kind und diese Liebe wird auch nie enden, wie die später geborenen Söhne dann nicht ohne eine Spur Eifersucht feststellen müssen.

Noch sehr jung hatten sich die Eltern kennengelernt. Die hypothetische Frage des Sohnes, ob das nun eine Zweckgemeinschaft gewesen sei, lässt Becker den Vater mit der Gegenfrage beantworten: „Wie kommst du denn darauf? Arschloch?“ Ja, seine Eltern seien liebevoll gewesen, erklärt Becker, „halt mit allen Ecken und Kanten, die das Milieu so mitbringt“.

Als Erzähler nimmt er einen feinen Ton ironischer Distanz ein, der nie ins Zynische abstürzt, „aber ich wollte auch keinen steifen Hals vom nostalgischen Blick zurück bekommen“, gibt er zu.

Roman wie ein großes Milieubild entworfen

Tatsächlich schleicht sich Nostalgie nicht ein, weil Becker den Roman wie ein großes Milieubild entwirft, das er mit jedem Kapitel über Arbeit, Ferien oder Alltag nur immer detaillierter zeichnet. Auch im Moment des größten Unglücks regiert keine Resignation, es gibt immer wieder einen sinnlich-humorvollen Schwenk zur Fülle des Lebens hin.

Im Blick auf die Eltern und ihre unbeirrte Fürsorge zeigt Martin Becker den beschränkten Horizont des Malochens und Kümmerns, der an die Ruhelosigkeit einer Wühlmaus erinnert.

Zugleich erfasst sein Blick aber auch eine tiefere Wahrheit im Leben dieser ewigen Verlierer, die vielleicht nur deshalb Verlierer sind, weil sie nicht den Erfolgsvorstellungen der Konsumgesellschaft entsprechen. Dabei zeigen sie uns, dass das Leben aus mehr als Geld und Erfolg besteht. Anders als Annie Ernaux oder Didier Eribon distanziert sich Martin Becker auch nicht vom Milieu seiner Eltern, sondern erkennt sich in ihm wieder, wenn er sagt: „Wir schleppen mit uns herum, was wir sind.“

Martin Becker. Die Arbeiter. Luchterhand, 302 S., 22 Euro


Zur Person

2014 erschien Martin Beckers erster Roman „Der Rest der Nacht“. Es folgten „Marschmusik“ (2017) und „Kleinstadtfarben“ (2021) sowie der Erzählband „Ein schönes Leben“ (2007). Von ihm stammt auch der Reiseführer „Gebrauchsanweiseung für Prag und Tschechien“ (2016).

Becker, der im November 1982 in Attendorn geboren wurde, arbeitet auch als Kritiker, unter anderem für den WDR und den Deutschlandfunk. Er lebt in Köln und in Halle an der Saale. (EB)