Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Lit.CologneSven Regener spricht im Interview über Text und Musik

Lesezeit 3 Minuten
sven regner

Sven Regener (l.) mit Interviewer Jochen Rausch.

Köln – Was, dieser agile Mann soll schon stramm auf die 60 zugehen? Sven Regener, Bremer von Geburt, Hanseat aus Leidenschaft, Wahlberliner ohne Einschränkung und beeindruckende künstlerische Doppelbegabung. Der Autor („Herr Lehmann“) und Musiker sprach in der fast ausverkauften Mülheimer Stadthalle mit Jochen Rausch (WDR) über das Versemachen, den Klang der Sprache und die Aufgaben der Kunst. Nur Persönliches wollte er nicht gerne preisgeben.

Mit seiner Band „Element of Crime“ habe er Anfang der 80er Jahre Angst gehabt, der im Sturzflug befindlichen „Neuen deutschen Welle“ zugeordnet zu werden. Deshalb habe man zunächst auf Englisch gesunden. Als Herz-Schmerz-Schlagerfuzzi wollte er auch nicht gelten. Aber eines musste sein. Da habe sich die Band entschlossen: „Wir singen 'Ich liebe Dich', und wenn das gut geht, dann sind wir durch und können alles texten.“ So kam es dann auch, denn „auch doofe Lieder sind gut“, so Regener, „wenn sie gut klingen“. Und: „Das Geheimnis des guten Stils ist der Klang der Sprache.“ Auch reine Lyriker täten nichts anderes als Liedermacher, nämlich die Sprache durch Rhythmisierung zum Klingen zu bringen.

Von intellektuellen Texten hält der 58-Jährige nicht viel, denn „Klugheit ist in der Kunst keine Größe“. Vielmehr mag er das Spielerische, so wie im Lied „Delmenhorst“. Die Stadt gebe es, aber „Getränke Hoffmann an der Ecke“ habe er frei erfunden. Es komme nicht auf Realität, sonder auf Wirkung an – und Delmenhorst sei seit diesem Lied nicht mehr dasselbe.

Kunst soll Trost geben in einer problematischen Welt, nicht aber die Menschen belehren. So wie hier hatte Regener zu allen Fragen dezidierte, klare Ansichten. Auf seine Lieder, die zwischendrin aus dem Off eingespielt wurden, lenkte er hin, wenn zu intime Fragen kamen. Abschließend wollte Rausch wissen, was geschehen wäre, wenn seine Band aus Köln gekommen wäre. „Dann wären wir eine Karnevalsband geworden“, so Regener, „Abteilung Melancholie.“(msc)

Schalamows besonderer Blick

„Dieser Mann besaß eine seltene Eigenschaft: Ein Auge war kurzsichtig und das andere weitsichtig. Er konnte die Welt aus der Nähe und auf Abstand gleichzeitig sehen.“ So erinnert sich ein Mithäftling an Warlam Schalamow, der 18 Jahre im Gulag verbrachte und die Lagerwelt mit präzisem Realismus zu beschreiben vermochte, ohne dabei sein poetisches Talent verleugnen zu müssen.

Carolin Emcke, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, und der deutsch-russische Pianist Igor Levit richteten einen lit.Cologne-Abend für Schalamow aus. Mit ihrem Anliegen, dessen literarische Bedeutung gleichrangig neben der eines Alexander Solchenizyn zu verorten, rissen sie letztlich das Kölner Publikum im Klaus-von-Bismarck-Saal des WDR zu Standing Ovations hin. Levit spielte Schubert, Schumann und Bachs Goldbergvariationen. Eine subtile Auswahl, die Schalamows Erinnerungen nicht in Düsternis ertränkte, sondern ihr vitales Sprechen und ihren Blick für die Schönheit der kargen Taiga musikalisch unterstrich.

Schalamow wurde mehrfach wegen erfundener Vergehen gegen den Sowjetstaat zu Lagerhaft verurteilt, die Zeit von 1937 bis 1953 überlebte er in Sibirien. Nach seiner Freilassung vollbrachte er in einem Akt unglaublicher Erinnerungsarbeit die Niederschrift seines umfangreichen Werks. 1982 starb Schalamow in einer psychiatrischen Anstalt. Zuvor hatte er es geschafft, die systematische physische und psychische Zerstörung der Häftlinge durch Arbeit, Hunger und Schlafentzug analytisch zu beschreiben, darüber jedoch nie seine ethische Aufrichtigkeit zu verlieren.

Carolin Emcke las Passagen seiner Erinnerungen „Über die Kolyma“, die in kurzen Texten Menschen, Tiere oder Pflanzen in den Blick nehmen. Distanz und Empathie wechseln bei diesem Autor virtuos, so porträtiert er etwa mit dem „Krummholz“ eine charakteristische Baumart der Taiga mit einer Zärtlichkeit, die man gewöhnlich einem geliebten Tier zukommen lassen würde.

Ein Glück für die umfangreiche Edition ist das anschmiegsame Deutsch von Übersetzerin Gabriele Leupold. (TL)

Warlam Schalamow: Über die Kolyma. Erinnerungen. Matthes & Seitz Berlin. 286 S., 24 €.