Über sein Buch "Der Junge" spricht Autor Fernando Aramburu in der Kulturkirche.
lit.CologneFernando Aramburu plaudert aus dem Nähkästchen

Der Autor Fernando Aramburu in der Kulturkirche.
Copyright: Katja Tauber
Im kollektiven Gedächtnis nicht allein der Bewohner der kleinen baskischen Stadt Ortuella dürfte sich die Geschichte festgesetzt haben: Ganz Spanien trauerte um die Kinder der Gemeinde, als es 1980 durch eine Gasexplosion in ihrer Grundschule zu 51 Todesopfern, darunter 48 Schulkinder, kam. Was fast eine ganze Generation bedeutete.
Mit weißen Handschuhen geschrieben
Eine Geschichte, die auch heute noch „eine hohe emotionale Temperatur entwickelt“, wie es Fernando Aramburu formuliert. Er hat sie in seinem Roman „Der Junge“ erzählt, sie mit „weißen Handschuhen“ geschrieben, wie er sagt.
In der Kulturkirche befragte ihn Hörfunkjournalistin Claudia Dichter – Textauszüge las Schauspieler Robert Stadlober. Die Moderatorin musste manche knurrige Replik des Autors einstecken, der 1959 im Baskenland geboren und aufgewachsen ist, aber seit den 1980er Jahren in Hannover lebt. Halb im Scherz bezeichnete er Dichter als „böse Lehrerin“. Fühle er sich bei ihren Fragen auf der Bühne doch „wie in einer Prüfung“.
Aramburu ist ein wunderbarer Beobachter, der feinsinnig einen langsamen, unaufgeregten Erzählstil zu pflegen liebt. Für die Rolle seiner fiktiven Figur, den Grundschüler Nuco, der bei der Gasexplosion am 23. Oktober 1980 ums Leben kam, wickelt er alles posthum noch einmal auf: Das Frühstück, das der kleine Junge kaum hinunterbekam, das Trödeln, das schweigsame, in sich gekehrte Wesen — als hätte das Kind hellseherische Fähigkeiten, um zu erkennen, zu welcher Tragödie es an dem Tag wegen eines Versehens noch kommen würde: Ein Klempner hatte ein Gasleck nicht bemerkt und löste mit der Lötlampe die Katastrophe aus, die zahlreiche Familien traumatisierte. Manche waren gleich mehrfach betroffen.
Roman kommentiert sich selbst
Neben zehn Passagen, in denen sich der Roman selbst kommentiert, lässt Aramburu alle Figuren der kleinen Familie des Nuco erzählen: Die lebenstüchtige Mutter Mariaje, ihren Mann, den treuen und tüchtigen Arbeiter José Miguel, der ein liebevoller Vater ist — und ja, die etwas bizarre Figur — den Großvater Nicasio, der dem Enkel in seinem Leben weiterhin einen Raum gibt, als sei dieser gar nicht tot.
Den Friedhof besucht er regelmäßig. Als die Eltern das Kinderzimmer ausräumen wollen, um von den schmerzenden Erinnerungen befreit zu sein, baut er es in seiner Wohnung fast originalgetreu wieder auf. Robert Stadlober las das mit einer Ernsthaftigkeit, die hellhörig machte: Ist da einer plemplem? Oder richtet er sich sein Leben so ein, wie es für ihn gerade einfach am besten zu verkraften ist? In der Trauer ist jeder anders.
Aramburu verriet, dass ihn die Figur des Nicasio beim Schreiben persönlich gepackt habe, wie noch nie zuvor eine andere. „Ich habe beide Großväter nicht mehr erlebt, von beiden gibt es nur ein Foto. Ich habe beide sehr vermisst und mir eine emotionale Beziehung zu Nicasio aufgebaut, als wäre ich sein Enkel.“ Es gehe ihm um das soziale Bild. Mehr als Großvater, Vater Mutter und Kind habe es dazu nicht gebraucht. Doch fließen seine Erfahrungen aus einer Arbeiterfamilie mit ein.
Mutter fast 100 Jahre alt
Claudia Dichter verriet, was ihr der Autor hinter der Bühne über seine bald 100-jährige Mutter erzählt hatte. Damit enthielt sie dem begeisterten Publikum ganz wunderbare Aspekte nicht vor, auch wenn sie sich damit wieder einen kleinen Tadel Aramburus einfing, da sie es öffentlich ausgeplaudert habe.
Der Autor ließ sich gottlob darauf ein: „Meine Mutter kommt aus Navarra. Das sagt alles.“ Ein Sprichwort beschreibe eine Steigerungsform des Härtegrads: „Eisen, Diamant und Frauen aus Navarra.“ Der Tod habe Angst vor ihnen. Angst vor dem Tod braucht der Leser nicht zu haben. Der Roman birgt Hoffnung.
Fernando Aramburu: „Der Junge“ Rowohlt, 254 S., 25 Euro.