Lanxess-ArenaNick Cave liefert in Köln ein hinreißendes Konzert ab
Köln – Die Lanxess-Arena flaggt auf halbmast. Die Oberränge sind abgehängt, in den meisten Logen bleibt es dunkel, der Innenraum ist allenfalls zu zwei Dritteln gefüllt. Im Mai hat der Künstler, der heute Abend auftritt, seinen Ältesten, Jethro (31), verloren. Schon vor sieben Jahren starb einer seiner Söhne, Arthur, mit nur 15 Jahren in Folge von LSD. Aber mit Pietät hat der deutlich sichtbare Leerstand nichts zu tun. Viel eher etwas mit dem, was eine Frau im Unterrang ihrer Begleitung, gut hörbar, offenbart: „Von ihm kenne ich eigentlich nur die ,Roses’.“
Superspreader der Gefühle
„Where the Wild Roses Grow“, im Duett mit Kylie Minogue, war 1995 ein Hit. Aber anders als Billie Eilish oder Queen (inzwischen mit Adam Lambert), die beide unlängst für eine randvolle Arena sorgten, reüssierten Nick Cave and The Bad Seeds nie als Chartstürmer. Von ihren insgesamt 17 Alben kamen nur zwei an die Spitze. In Deutschland keins. Als erfolglos kann man den Australier und die von ihm 1993 mitbegründete „böse Saat“ keineswegs bezeichnen. Sie sind Kult. Aber sie sind kein Mainstream. Sie sind nicht massenkompatibel.
Böse Saat
Ihren Namen verdankt die Band von Nick Cave einem Roman von William March (1893-1954). Kurz vor seinem Tod veröffentlichte der US-amerikanische Autor „The Bad Seed“ (Die Böse Saat). Darin geht es um die 8-jährige Rhonda, die die Umwelt mit ihrem niedlichen Äußeren täuscht. In Wirklichkeit mordet sie aus Habgier, ohne Reue. 1956 wurde „The Bad Seed“ von Mervyn Leroy verfilmt und gilt als einer der Klassiker des Horror-Genres. Dass das kommerziell erfolgreichste, 1996 veröffentlichte, Album von Nick Cave and The Bad Seeds ausgerechnet „Murder Ballads“ (Mörderballaden) hieß und ausschließlich um Mord und Tod kreiste, passt. (sus)
Mit „Get Ready For Love“ gerät der Einstieg von Cave furios. Im adretten Dreiteiler, die schwarzen schulterlangen Haare zurückgekämmt, gibt er den „angry young man“ von 64 Jahren. Springend, rasend, in die Luft kickend, ein mächtig röhrender Rock’n’Roller, der schon beim Intro so dermaßen aufdreht, dass man sich entgeistert fragt: „Was soll denn jetzt noch kommen?“ Es kommt noch eine ganze Menge. Die Munition reicht für über zwei Stunden. Berührungsängste kennt Cave keine. Vom kleinen, der Bühne vorgebauten Plateau springt er auf eine Laufleiste. Parallel zur ersten Reihe angebracht, beängstigend hoch über der Absperrung.
Und so schmal, dass ein regulärer Catwalk dagegen wirkt wie ein Highway für Tiger. Kleine, große, schlanke, breite Hände, flehend, bittend, winkend strecken sich ihm entgegen. Er beugt sich nieder, ergreift sie, hält sie, drückt sie, presst sie, mitunter fest wie in einem Schraubstock.
Nick Cave gibt in Köln alles
Später wird er sich von ihnen stützen lassen, sie das Mikrofon halten lassen, während er singt und fleht, betet, flucht und keucht. Dämonen und Engel beschwörend, seinen Oberkörper auf die im Publikum in einem so steilen Winkel hernieder geschrägt, dass man befürchtet, dass er jeden Moment im Meer seiner Anbeter versinken wird. „From Her To Eternity“ ist Tornado und Inferno zugleich, „O Children“ mit seinem Background-Gospelgesang verheißt einen Moment der Besinnung, bei „Jubilee Street“ oder „Tupelo“ bricht erneut die Hölle los.
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Wenn sich Cave an den Flügel setzt, sind das kleine Atempausen. Aber dann, obwohl das Haar noch kurz zuvor zurück in Form gekämmt wurde, fliegt doch wieder der Mikrofonständer durch die Luft und der Klavierhocker poltert zu Boden. Cave ist Dramaturg und Demagoge, ein Superspreader der Gefühle, dämonisch, zärtlich, ironisch: „Mögt ihr mein Handtuch? 20 Euro!“
Ein Poet, der zusammen mit Warren Ellis helle Pferde und weiße Elefanten beschwört und ein Musik-Pantomime, der in Comic-Manier Herzschmerz („Boom-Boom!) und Tränen („Cry! Cry!“) ausdrückt. Der Dandy mit Glitzersocken in Mokassins, der auf die Bühne rotzt. Um bei der ersten Zugabe „Into My Arms“, wieder am Flügel, geballten Balladenschmelz über uns auszugießen.
Widersprüchlich? Ja. Unbedingt. Aber dazu auch absolut hinreißend.