Einer schwierigen Prüfung müssen sich zwei Schwestern unterziehen, die um die elfjährige Milli streiten. Christian Schnalke lässt sie in der Tiroler Bergwelt wandern.
Mit dem Sarg auf den BergKölner Autor entwirft Familien-Psychogramm in neuem Roman
Grit arbeitet als Sozialarbeiterin fürs Jugendamt. In ihrer übrigen Zeit renoviert sie eine 400 Jahre alte Burg und widmet sich, „der Aufzucht“ der elfjährigen Milli. Die Burg in der sie leben, ist eine Dauerbaustelle, das Amt für Denkmalpflege droht mit Annullierung des Kaufvertrags. Und dann steht auch noch plötzlich Grits Schwester Fiona vor der Tür. Sie fordert Milli zurück. Als Baby hat sie sie wie ein Gepäckstück bei Grit abgegeben, um in ein wildes und verrücktes Leben zu entschwinden.
Elfjährige ergreift Initiative
Nach „Louma“ (2021), widmet sich der Kölner Autor Christian Schnalke in seinem Roman „Gewitterschwestern“ erneut einer vertrackten, wenn nicht gar toxischen, Familiengeschichte. Während sich Grit und Fiona gegenseitig mit Vorwürfen überhäufen und zu keiner sachlichen Klärung der Situation in der Lage sind, übernimmt Milli, die erst jetzt erfährt, dass ihre Mutter nicht ihre biologische Mutter ist, nach anfänglichem Schock, die Initiative.
Indem sie eine Aufgabe stellt: Die beiden „Mutterschaftsanwärterinnen“ sollen gemeinsam einen Sarg – den Fiona selbstgebaut und mitgebracht hat, um darin ihre Vergangenheit zu begraben – auf einen Berggipfel tragen. Wer zuerst schlapp macht, verliert das Recht auf Milli. In Grundzügen an „Der Kaukasische Kreidekreis“ von Brecht erinnernd, gelingt Schnalke mit „Gewitterschwestern“ ein packendes Psychodrama über eine verkorkste Kindheit, verdrängte Schuld und Rivalitäten unter Schwestern.
Bei aller Dramatik und Härte hat das auch herrlich komische Züge. Etwa, wenn Milli, die auf der Klettertour dabei ist, über Nacht den Sarg als Schlafmöbel schätzen lernt: „Wenn sie sich auf die Seite legte, konnte sie die Knie nicht sehr weit anziehen, ohne an das Holz zu stoßen. Aber im Grunde war es sehr gemütlich. Das Wort heimelig fiel ihr ein. Ob es viele Leute gab, die einen Sarg heimelig finden? Meist lagen ja nur Tote drin. Deshalb gab es sicher auch nicht viele Leute, die in einem Sarg auf der Seite liegen.“
Neben Krimis, Romanen, Theaterstücken und Moderationstexten hat Schnalke auch viele Drehbücher für Serien, Spielfilme und Mehrteiler geschrieben. Unter anderem für preisgekrönte TV-Events wie „Die Patriarchin“, „Krupp – Eine deutsche Familie“, „Afrika, mon amour“, „Duell der Brüder – die Geschichte von Adidas und Puma“ und „Katharina Luther“.
Dialoge direkt aus dem Leben
Das merkt man seinen Dialogen an: Sie lesen sich wie direkt aus dem Leben. Wenn die Schwestern verbal ihre Klingen kreuzen, kommt, angesichts des Tempos, das sie dabei vorlegen, mächtig Freude auf. Dass die Beschreibung der Bergtour so anschaulich gerät, hat auch einen guten Grund. Mit seiner Familie ist der heute 57-Jährige Autor in den vergangenen 20 Jahren jeden Sommer unzählige Steige in Tirol gegangen und geklettert. „Diese Stunden und Tage mit Euch gehören zum Wertvollsten, das ich besitze“, so dankt er am Ende von „Gewitterschwestern“ seinen Angehörigen.
Christian Schnalke: Gewitterschwestern. Oktopus, 294 S., 22 Euro