Seit Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine kritisiert Wladimir Kaminer seine frühere Heimat. Olaf Neumann hat mit ihm über den Krieg und dessen Bedeutung für Russlands Bevölkerung gesprochen.
Interview mit Wladimir Kaminer„Wir brauchen eine Exitstrategie für die russische Bevölkerung“
Mit der symbolischen Weltuntergangsuhr zeigen Forscher seit 1947 an, wie nah die Menschheit an ihrem Ende ist. Vor Putins Angriff waren es 100 Sekunden vor Mitternacht - und in Ihren neuen Geschichten tickt die Uhr weiter Richtung Untergang. Wie fühlt es sich an, am Rande der Apokalypse zu frühstücken?
Das ist natürlich ironisch gemeint. Wir Menschen stehen am Rande der Apokalypse, seit wir uns Gedanken über die Zukunft machen. Die russischen Autoren liebten es, über die Apokalypse zu schreiben. Ich habe gerade das Buch „Der Anfang vom Ende“ des russischen Philosophen Mark Aldanow gelesen, davor von Wasilij Rosanow „Die Apokalypse unserer Zeit“. Sie haben sich an diesem Rande ganz gut eingelebt, wohl gemerkt noch ohne Internet. Ihre Nachrichten passten alle auf eine Zeitungsseite. Heute haben die Informationsflüsse überhaupt keine Grenzen mehr, wir werden im Sekundentakt mit Nachrichten aus der ganzen Welt bombardiert. Gefühlt führen wir ein tolles Leben im Schatten des Ukrainekrieges. Er ist wie ein feststehender Hintergrund, mit dem wir uns abgefunden haben. Mein Thema sind Menschen, die nicht verstehen, wo sie sind, aber so tun, als würden sie alles unter Kontrolle haben. Daraus entsteht die Tragikomik dieses Buches.
Wie bewahren Sie sich Ihren Humor?
Ich nehme das Leben als eine tragische Angelegenheit wahr. Wir sind nur für eine kurze, unbestimmte Zeit hier. Kaum fangen wir an, etwas zu verstehen, ist das Leben auch schon wieder zu Ende. Die Frage ist bloß, wie man mit dieser Tragödie umgeht. Wenn man weint, ist es eine Sackgasse und das Leben verliert seinen Reiz. Man muss lernen, auch über das Tragische zu lachen. Auf diese Weise kann man es überwinden. Tragödien haben auch eine lächerliche Seite.
Auch der Ukraine-Krieg?
Ich lese die ganze Zeit Nachrichten über Russen, die auf die Krim reisen, um Urlaub zu machen. Was ist mit diesen Menschen los? Sie fahren mit kleinen Kindern quasi direkt dahin, wo Krieg ist. Unbegreiflich, aber verdammt lustig. Ich habe in einem russischen sozialen Netzwerk ein Video gesehen: Zwei Mädchen standen vor der gesprengten Krim-Brücke. Sie schimpften über die Ukraine: „Hättet ihr diese Brücke nicht eine halbe Stunde später sprengen können? Dann wären wir schon auf der Insel gewesen.“ Verrückt, wie das menschliche Wesen immer wieder neue Geheimnisse aufwirft.
Hatten Sie Ihren fatalistischen Humor schon als Kind entwickelt? Im Kalten Krieg mussten Sie sich schließlich schon früh an die Existenz von Nuklearwaffen gewöhnen.
Ja, obwohl der Kalte Krieg mir nicht so nah zu sein schien. Aber jetzt erleben wir eine andere Situation. Hier in Berlin werde ich fast täglich konfrontiert mit hunderten von Landsleuten. Die mussten alles stehen und liegen lassen und Russland verlassen. Das menschliche Drama um die ukrainischen und russischen Geflüchteten ist bei uns sehr präsent. Im Kalten Krieg war es eher ein Gefühl von Ausweglosigkeit. Wir waren durch einen möglichen Atomkrieg so oder so verurteilt. In der Schule mussten wir lernen, was man im Falle eines nuklearen Angriffs tut. Darüber haben die Russen viele Witze gemacht.
Welche zum Beispiel?
Man muss sich in weißen Laken einmotten und langsam zum Friedhof gehen.
1951 zeigte die animierte Schildkröte Bert the Turtle den amerikanischen Kindern, wie sie sich bei der Explosion einer Atombombe verhalten sollten. Diese gut gemeinten Empfehlungen wirkten ziemlich hilflos.
Die Amerikaner sind ja freie Menschen. Sie hatten zumindest das Gefühl, dass sie ihr Leben selbst managen können. Sie waren viel energischer, haben Bunker gebaut und hatten eine große Bewegung von Apokalyptikern, die sich auf ein Leben nach einem Atomkrieg vorbereiteten. Für uns Russen hingegen gab es keine Möglichkeit, Lebensmittelvorräte zu horten oder Bunker zu bauen. Ohne Erlaubnis vom Staat ging gar nichts. Aber wir Moskauer hatten wenigstens die Metro, ein Bunker für alle.
Sie schreiben, dass Sie bereits in den 1980ern keine Illusionen hatten, was den sowjetischen Staat betraf. Sie waren sich sicher, er würde Sie eines Tages umbringen. Änderte sich dieses Gefühl mit dem Präsidenten Gorbatschow
Die Sowjetunion barg wie jede diktatorische Struktur natürlich große Gefahren für die Welt. Heute würde ich sagen, dass diese Gefahren geringer waren als jene, die jetzt von Putins Regime ausgehen. Die sowjetische Innenpolitik war ein kompliziertes Zusammenspiel von verschiedenen Machtzentren. Es gab die Partei, die Staatssicherheit, die Armee. Diese Interessengruppen konkurrierten ständig miteinander. Aber es gab einen Dialog. Wir wissen heute zum Beispiel, dass Generalsekretär Breschnew gegen den russischen Einmarsch in Afghanistan war. Er konnte sich aber nicht durchsetzen.
Das ist heute ganz anders ...
Alle Fäden der Macht liegen heute in der Hand einer Person: Putin. Und der lebt in einer eigenen Realität und will nichts wissen von dem, was wirklich da draußen passiert. Das ist eine viel gefährlichere Situation.
Im Buch vergleichen Sie Putins Präsidentschaft mit einer nie enden wollenden Soap. Wer schreibt dafür das Drehbuch?
Es gibt kein Drehbuch, das ist das Problem. Wie enden überhaupt Serien? Ich habe ehrlich gesagt keine einzige bis zu Ende geguckt. Es gibt diese türkische Serie über das Leben des Sultans. Die ist auf natürliche Weise zu Ende gegangen, weil die Damen in dem Harem irgendwann Rentnerinnen waren.
Wie könnte die Führung dieses großen Reiches nach Putin aussehen?
Ich denke, es wird sehr viele Kandidaten geben, die das Land gerne übernehmen würden. Aus meiner Sicht wird das kein toller Job. Inzwischen wundert sich die ganze Welt nicht so sehr über Putin, sondern über die Bevölkerung. Russland ist total entpolitisiert. Die Menschen nehmen selbst diesen Krieg als eine Art Naturgewalt wahr. Deswegen fahren sie im Urlaub auch auf die Krim.
In Russland kommen mittlerweile Schwerverbrecher wie Mörder und Vergewaltiger aus dem Gefängnis frei, wenn sie sich der Armee anschließen. Sie schreiben, dass diese Leute sogar als Helden verehrt werden. Was macht das mit der Gesellschaft?
Diese Leute kommen als Helden zurück in ihre Städte und entwickeln dort weitere kriminelle Aktivitäten. Aber sie dürfen nicht verhaftet werden, weil sie eben Helden sind. Eine andere skurrile Geschichte lautet: Jemand, der für das Schulfrühstück zuständig war, kommt zum Präsidenten und sagt: „Deine Armee ist schlecht, ich stelle dir eine neue zusammen. Eine Armee der Hölle. Gib mir die Schlüssel zu allen Kerkern des Landes und ich mache das.“ Und er bekommt diese Schlüssel wirklich. Diese Armee der Hölle ist zu einer riesigen Totenmühle geworden. Die Überlebenden sind dann auf ihren Panzern Richtung Moskau gefahren und blieben 200 Kilometer vor der Hauptstadt stehen. Das zeigt uns, wie verletzlich autokratische Strukturen sind.
Welches Schicksal droht Söldnerführer Prigoschin?
Unter Putin ist in Russland ein zweiter Staat mit einer schwarzen Kasse entstanden. Angeblich hält Prigoschin in Afrika und im Nahen Osten große Teile an dieser Kasse. Deswegen wird er nicht abgeschrieben. Im Fernsehen wurde gezeigt, wie er alles zurückbekommen hat: Kisten voller Geld, Kisten mit weißem Pulver, Waffen, Gold. Das Verrückte ist, er hat seinen Fahrer geschickt, um das alles abzuholen. Der hatte ein Berechtigungsschreiben dabei.
Diese Geschichte klingt so abenteuerlich wie das Drehbuch für einen Hollywoodfilm.
Ich bin mir sicher, dass in Hollywood bald tolle Drehbücher über das Thema geschrieben werden. Die Serie geht weiter. Manchmal habe ich das Gefühl, dass das Drehbuch von einer KI geschrieben wird aufgrund von Daten aus der russischen Geschichte. Also ein bisschen gaga.
Was verbindet Deutschland und Russland noch?
Das merke ich eigentlich erst jetzt. Ich bekomme fast täglich Emails von Vereinen aus Partnerstädten. Fast jede mittelgroße deutsche Stadt hatte eine Partnerschaft mit einer russischen. Die Menschen wollen ihre Vereine retten und ihre Kontakte behalten. Sie sind ja jahrelang hin und her gereist und haben die Partnerstädte zu sich eingeladen. Das ist ein großes menschliches Drama.
Auf welche Weise könnte man in der jetzigen Situation die Kontakte zu russischen Partnerstädten nutzen?
Man muss jede Möglichkeit nutzen, um mit den Russen im Gespräch zu bleiben. Sie sind natürlich unter diesem Regime ziemlich platt gemacht worden, andererseits bekommen sie von der Proganda jeden Tag zu hören, dass die ganze Welt sie hasse. Egal, wie dieser Krieg ausgeht, Russland bleibt unser Nachbar. Einen so großen, beleidigten Außenseiter können wir uns nicht leisten.
Ihre Kinder sind in Berlin geboren. Fühlen sie sich eher deutsch oder eher russisch?
Je nach Situation. Früher konnte man durchaus mit russischen Eltern angeben, jetzt ist das Russischsein wahrscheinlich nicht mehr so populär. Aus meiner Sicht sind sie sehr deutsche Kinder. Sie haben auch all diese Macken mitgenommen, wie Zukunftsangst oder bestimmte Illusionen. 20-Jährige, die die DDR nur von der Lebensmittelmesse „Ostpro“ her kennen, wo skurrile Dinge wie Kalter Hund oder Tote Oma als Wurst serviert werden, sehen in der DDR eine lustige Alternative. Weil es dort keinen Überfluss gab, alle fuhren dasselbe Automodell. Das passt gut zu den Themen von heute. Ich glaube aber, die DDR war nicht wirklich öko.
Die AfD ist in Ostdeutschland so erfolgreich wie nie, eine Partei, die mit Putin kuschelt. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Die AfD funktioniert wie ein Pflaster gegen den Schmerz. Ihr Slogan „Das ist nicht unser Krieg!“ bewirkt, dass sich Leute auch nicht damit beschäftigen und lieber in den Garten gehen und Johannisbeeren pflücken. Aber das sind alles nur Illusionen. Eine Alternative für Deutschland - was soll das sein? Ich glaube, Deutschland ist alternativlos. Ob man das gut findet oder nicht, ist eine andere Frage.
Ist Deutschland ein Land, in dem man glücklich und zufrieden leben kann?
Für mich auf jeden Fall. Wir müssen versuchen, Deutschland zu verbessern. Wir brauchen keine Alternative, sondern einen Zukunftsentwurf. Und eine Exitstrategie für die russische Bevölkerung. Über das, was passieren soll, damit wir wieder gute Nachbarn werden, wird heute überhaupt nicht gesprochen.
Möchten Sie dazu gern einen Beitrag leisten?
Ja, das versuche ich auch. Ich habe durch den Ukrainekrieg ein Dutzend neue Jobs bekommen. Die würde ich gern alle wieder abgeben für ein wenig Frieden. Wir müssen jetzt versuchen, dass der Krieg so schnell wie möglich aufhört und eine friedliche Koexistenz zur Sprache kommt.
Wladimir Kaminer: „Frühstück am Rande der Apokalypse“ (Wunderraum, Hardcover- Pappband, 224 S., 22 Euro) – VÖ: 23.8.2023