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Interview mit Kritikerin nach Hundkot-Attacke„Gott sei Dank, hat er kein Messer gezogen“

Lesezeit 6 Minuten
Marco Goecke mit Sonnenbrille auf der Treppe im Foyer der Staatsoper.

Marco Goecke, Ballettdirektor der Staatsoper Hannover, steht im Foyer der Staatsoper (Archivbild).

Wiebke Hüster, Tanzkritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, spricht im Interview über den Moment, als Ballettdirektor Goecke sie mit Hundekot angriff.

Am Abend des 11. Februar erlebt Wiebke Hüster die denkbar scheußlichste Demütigung: Die Tanzkritikerin der „Frankfurter Allgemeinen“ (FAZ) wird im Foyer der Staatsopfer Hannover vom dortigen Ballettdirektor Marco Goecke attackiert – und mit einem Hundehaufen beschmiert. Die Staatsoper hat in einem Statement ihre Betroffenheit ausgedrückt und den Ballettchef suspendiert. Goecke selbst hat sich inzwischen entschuldigt; allerdings nicht, ohne Hüster erneut Vorwürfe zu machen. Im Interview mit Daniel Benedict schildert die 57-jährige Kritikerin den Angriff samt Vorgeschichte und sagt, wie sie mit dem Übergriff fertig wird.

Frau Hüster, am 11. Februar wurden Sie vom Hannoveraner Ballettdirektor Marco Goecke angegriffen und mit Hundekot beschmutzt. Was genau ist da passiert?

Zwei Tage vorher hatte ich mir in Den Haag eine Uraufführung von Marco Goecke angesehen. Die Tänzer waren virtuos – die Choreografie bestand aus losen Fäden. Das habe ich in der FAZ so geschrieben, nicht ohne positive Momente hervorzuheben. Ich bin 57. Wenn man jung ist, gehen einem vielleicht mal die Pferde durch. Aber ich haue nicht einfach drauf. Im Text greife ich eine Aussage von Goecke auf, wonach er seine schönsten Stücke in Den Haag gemacht hat. Dazu schreibe ich: Als Intendanz der Staatsoper Hannover würde mich das nachdenklich stimmen. Dieser Satz, hat Goecke mir später gesagt, habe ihn Abonnenten gekostet.

Womit wir am Abend des 11. Februar sind.

An diesem Abend war ich in der Premiere von „Glaube – Liebe – Hoffnung“. Auf dem Rückweg aus der Pause ins rechte Parkett hat Marco Goecke mir den Weg verstellt und mich angesprochen: „Wiebke, was willst du noch hier?“ Wir sind nicht per Du. Ich habe geahnt, dass er sauer ist und mir gesagt: Okay, dann kriegt er sein Gespräch. Ich bin Kritikerin, habe ich also geantwortet, und ich rezensiere jetzt diesen Abend. Dann meinte er: „Wir hätten dir Hausverbot erteilen sollen.“ Wie denn? Ich habe ja nichts gemacht.

Was war sein Vorwurf?

Er hat mir vorgeworfen, immer „so schlimme persönliche Kritiken“ zu schreiben. Und der Satz über seine schönsten Stücke in Den Haag habe ihn Abonnenten gekostet. Dann hat er eine Tüte rausgezogen und mir Hundescheiße ins Gesicht geschmiert. Richtig brutal reingedrückt ins Gesicht.

Und dann …

Hat er die Tüte weggeworfen und ist gegangen.

Aber es muss doch Publikum dagewesen sein, das alles gesehen hat.

Deswegen hatte ich ja auch keine Angst. Ich hatte mich zwar gewundert, warum der Choreograf nicht wie sonst hinter der Bühne ist. Aber trotzdem habe ich gelassen vor ihm gestanden und mich mit ihm unterhalten. Ich hatte ihm gegenüber ja keinerlei Schuldgefühle.

Hat niemand reagiert?

Eine Frau hat mir inzwischen geschrieben, dass sie Goecke hinterhergelaufen ist und ihn festhalten wollte. Sie hat wohl auch andere um Hilfe gebeten. Aber dann ist jemand vom Theater gekommen und hat ihn schnell in einen Nebenraum bugsiert. Er selbst ist abends dann noch auf die Bühne gegangen und hat sich verbeugt. Die Frau, die das verhindern wollte, ist meine Heldin.

Was haben Sie gemacht, als es passiert war?

Als ich verstanden habe, was er gerade gemacht hat, habe ich laut geschrien. Ich habe das Theater zusammengeschrien, weil ich so geschockt war. Ich war völlig außer mir. Fix und fertig.

Das überrascht nicht. Sie sind ja nicht angerempelt oder mit einem Rotwein begossen worden. Mit einem Hundehaufen beschmiert zu werden, ist die denkbar intensivste Demütigung.

Ich sage Ihnen, warum ich das ganz gut verkrafte: Gerade, weil er mich nicht furchtbar geschubst hat und ich mir nichts gebrochen habe. Es war schlimm, aber ich habe es abgewaschen und am nächsten Tag hatte ich nichts. Am nächsten Morgen bin ich mit dem Gedanken aufgewacht: Gott sei Dank hat er nicht ein Messer rausgezogen und mir in die Rippen gestoßen – wie beim Angriff auf Monica Seles damals.

Wir sprechen über Marco Goecke jetzt wie über einen Psychopathen. Ist das Ihre Lesart seines Verhaltens?

Nein. Ich habe keine Lesart von Herrn Goecke; ich möchte ihn auch nicht kommentieren oder über seine Motive oder seinen Gemütszustand spekulieren. Das war ein kurzer, furchtbarer Zusammenstoß, mit dem ich abgeschlossen habe. Das Nötige habe ich getan: Ich bin zur Polizei gegangen und habe wegen Beleidigung und Körperverletzung Strafanzeige erstattet. Und dann habe ich meine Redaktion gebeten, es öffentlich zu machen, damit jeder davon erfährt.

Welche Konsequenzen wünschen Sie sich?

Darüber denke ich nicht nach. Seine Zukunft hat mit meiner Zukunft nichts zu tun. Ich werde nie mehr ein Stück von ihm anschauen. Und wenn die Staatsoper darauf beharrt, ihn weiter zu beschäftigen, dann werde ich das Haus nicht mehr betreten. Ich habe ein Buch über die Bewältigung von Traumata gelesen. Da geht es um eine Frau, die mit knapper Not einen Haiangriff überlebt hat. Diese Frau würden Sie auch nicht fragen, was sie von dem Hai hält. Aber ich will das Bild nicht überstrapazieren: Herr Goecke ist kein Hai. Ich habe noch alle Gliedmaßen und auch keine Angst, wieder in ein Theater zu gehen. In 25 Jahren bin ich niemals auch nur beschimpft worden.

Die FAZ sieht den Angriff im Zusammenhang mit aggressiven Worten über Kritiker; die Intendantin Karin Beier soll die Kritik zum Beispiel als „Scheiße am Ärmel der Kunst“ bezeichnet haben.

Den Zusammenhang mit einer zunehmend aggressiven Auseinandersetzung in unserer Gesellschaft finde ich richtig. Und noch etwas: Mein Sohn, der selbst Regisseur ist, hat den Übergriff als männliche toxische Gewalt bezeichnet. Ich selbst hatte mich an dem Abend nur in meiner Rolle als Kritikerin gesehen. Aber natürlich bin ich auch eine Frau. Das ist die Gewalt eines weißen mittelalten Mannes an einer Frau – im Jahr 2023.

Dass ein Künstler die Kritikerin als Feind empfindet, gegen die er sogar physisch kämpfen muss – ist das auf eine perverse Weise auch ein Zeugnis für die Bedeutung von Kritik?

Das hat man mir auch schon gesagt: Man kann es als Kompliment für eine Arbeit betrachten, die ich liebe. Ich liebe die FAZ, ich liebe das Radio und es hört auch jetzt nicht auf, mir Freude zu machen.

Haben Sie Sorge, dass von dem Übergriff ein Stigma bleibt?

Im erste Moment hatte ich die Sorge: Jetzt bist du für immer die Frau, der Marco Goecke Exkremente ins Gesicht gedrückt hat. Das Thema ist überall präsent. Ich habe der BBC zwei Interviews gegeben, der „New York Times“, im „Guardian“ steht’s auch. Und es ist auch wichtig, dass man darüber spricht. Und trotzdem bin ich ganz vieles anderes und nicht nur die, die diesen schrecklichen Vorfall erlebt hat.