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Interview mit Autorin Juli Zeh„Auf dem Land habe ich zu mir selbst gefunden“

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Juli Zeh. (Archivbild)

Barnewitz – Konformismus in der Stadt, Freiheit auf dem Dorf? Juli Zeh dreht den Blick. Sie sagt: „Erst auf dem Land habe ich wirklich zu mir selbst gefunden“. Stadtluft macht frei. Ein Satz wie ein Versprechen. Für Juli Zeh gilt er schon lange nicht mehr. „Auf das Land zu ziehen, hatte für mich Erlösungscharakter. Ich konnte vieles hinter mir lassen, was mich unglücklich gemacht hat“, sagt die Bestsellerautorin, die seit 2007 in Barnewitz lebt.

60 Kilometer westlich von Berlin ist sie der Metropole dennoch nah. „Wenn es das Internet nicht gäbe, säße ich nicht hier draußen“, sagt Zeh. Sie hat gerade mit ihrem neuen Roman „Über Menschen“ den Spitzenplatz der Bestsellerlisten erobert. Als ehrenamtliche Verfassungsrichterin Brandenburgs spricht sie Recht.

Literaturkritik auf dem Pferd

Wir treffen Juli Zeh per Videokonferenz. Sie habe vor Jahren eine tiefe Sehnsucht verspürt, einfach mal auf die Bremse zu treten. Ihre Entscheidung bereut sie keine Sekunde. Im Gegenteil: „Auf dem Dorf gewinnt man Distanz und findet besser zu sich selbst“, sagt sie heute. Seit Jahren lebt sie mit Mann und Kindern und Pferden auf dem Land. Und Platz für Literatur findet sie hier auch, wenn sie gemeinsam mit dem Literaturkritiker Denis Scheck auf dem Rücken der Pferde unterwegs ist.

Stadtluft macht frei? Für Juli Zeh gilt das schon lange nicht mehr. „Die Städte erzeugen in letzter Zeit einen hohen Konformitätsdruck. Es wird dort sehr viel Anpassungsleistung erwartet. Exzentrik wird in der Stadt nicht mehr honoriert“, kehrt sie die Sicht auf den Gegensatz von Stadt und Land einfach um. Aber ist das Dorf nicht der Ort der sozialen Kontrolle, das Nest, das zwar Geborgenheit bietet, in dem aber auch jeder über den anderen Bescheid weiß – lückenlos? Juli Zeh schaut einen Moment zur Seite, überlegt.

Ja, das sei so, meint sie. Es komme aber nicht auf das Wissen an, sondern darauf, was jeder daraus mache. Auf dem Dorf sei es egal, was der andere mache.

„Über Menschen“ ist Zeh's neuer Roman

Für Juli Zeh ist das Dorf die neue Lebensschule. „Im Dorf ändert sich das Sozialverhalten. Andere Menschen sind oft eine Zumutung für uns. Auf dem Dorf sind sie unausweichlich. In der Stadt neigt man viel mehr zu Ausweichbewegungen. Das Miteinander auf dem Dorf folgt einem Pragmatismus. Und das macht sehr glücklich“.

Das passt zu ihrem aktuellen Roman. In „Über Menschen“ trifft Protagonistin Dora in ihrem Dorf auf Gote, der sich selbst als der „Dorfnazi“ vorstellt. Was tun? Ausweichen? Ignorieren? Juli Zeh erzählt in dem Roman davon, wie sie Menschen miteinander arrangieren, ja sich neu wahrnehmen lernen.Sich neu oder überhaupt einmal wahrnehmen, Solidarität und Hilfe neu lernen – das sind für Juli Zeh die wesentlichen Lehren des Dorflebens. Zugleich warnt sie vor Vorurteilen. „In den Dörfern leben nicht die Globalisierungsverlierer. Viele, die hier leben, sehen eher die Menschen in den Städten als die Verlierer“. Die Gesellschaft sollte bestimmte Tugenden der Dorfgemeinschaft dringend lernen, „sonst fliegt sie auseinander“.

Freiheit und Sicherheit müssen im guten Ausgleich stehen

Juli Zeh sieht den Umgang mit der Corona-Pandemie als aktuellen Anwendungsfall dieser neuen Haltung. „In der Pandemie vermitteln die Medien den Eindruck einer gespaltenen Gesellschaft. Dabei ist die Solidarität wichtig, gerade mit jenen Menschen, die die Dinge anders sehen als wir“.Sie hält, wenn es um Corona geht, viel von Regeln, die zu befolgen sind, wenig von moralischen Belehrungen: „Die Debatten um die richtigen Maßnahmen gegen die Pandemie zeigen, dass Freiheit und Sicherheit immer in einem guten Ausgleich stehen müssen“, sagt die Juristin: „Fundamentale Bedrohungen wie die Terroranschläge vom 11. September oder die Corona-Pandemie zeigen, dass es zunächst immer eine Verschiebung zugunsten der Sicherheit und zu Lasten der Freiheit gibt. Die Menschen wollen sich schützen. Das darf aber nie so weit gehen, dass die richtige Abwägung von Freiheit und Sicherheit vergessen wird.

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Wenn es um das Klima geht, wird sie energisch. Zu nah ist ihr die Flutkatastrophe, die Gegenden nahe ihrer Heimat Bonn verwüstet hat. „Wir sollten vorsichtig sein, wenn es darum geht, von Ereignissen wie der Flutkatastrophe politisch Gebrauch zu machen. Für mich steht außer Frage, dass wir den Klimawandel endlich angehen müssen.“

Die politischen Parteien seien nicht auf der Höhe des Problems– auch die Grünen. „Wir brauchen eine gigantische technologische Revolution, um dem Klimawandel weltweit begegnen zu können“. Aus Barnewitz kommt eine versöhnliche Botschaft: „Ja, ich schaue trotz allem positiv nach vorn. Optimismus ist Pflicht. Wir haben aber auch allen guten Grund dazu.“