Regisseur Edward Berger hat schon jetzt mit „Im Westen nichts Neues“ mit insgesamt neun Nominierungen Filmgeschichte geschrieben – das schaffte noch kein Werk aus Deutschland.
Gespräch mit „Im Westen nichts Neues“-Regisseur„Wir könnten natürlich jeden einzelnen Oscar gebrauchen“
Als die Oscar-Academy Ihre neun Nominierungen bekannt gegeben hat, haben Sie gedreht. Wie viel SMS sind aufgepoppt, als Sie das Handy wieder angemacht haben?
Edward Berger: Wir hatten eine Drehpause eingelegt und mit dem gesamten Team den Livestream geguckt. Danach hieß es sofort: Studiolicht aus und zurück an die Arbeit. Das Handy habe ich erst am Abend wieder angemacht, und es waren viele Nachrichten. Mehrere Hundert, nehme ich an. Sicher weiß ich nur: Ich habe noch nicht alle beantwortet.
Noch nie war ein deutscher Film für neun Oscars im Rennen. Sie können doch nicht einfach zurück an die Arbeit gegangen sein.
Natürlich lagen wir uns in den Armen. Die Kostümbildnerin von „Im Westen nichts Neues“ arbeitet auch mit mir bei meinem neuen Film zusammen. Alle haben sich für uns gefreut.
Was drehen Sie gerade?
Wir machen einen Kinofilm über eine fiktive Papstwahl. Ralph Fiennes spielt mit, ebenso Isabella Rossellini und Stanley Tucci. Wir drehen in den Cinecittà- Studios in Rom, wo man die gesamte Filmgeschichte in den Gemäuern spürt. Das ist natürlich großartig.
Heißt das, Sie brauchen die Oscars gar nicht, weil die Stars auch jetzt schon mit Ihnen arbeiten?
Wir könnten natürlich jeden einzelnen Oscar gebrauchen. Aber es ist so: Vor einigen Jahren habe ich die Serie „Patrick Melrose“ gedreht. Die lief in Amerika sehr gut. Dadurch lernte ich einige Produzenten kennen, mit denen ich jetzt auch zusammenarbeite.
Wann ziehen Sie um?
Das möchte ich gar nicht. Ich habe eine große Affinität zu Amerika. Ich mag den Esprit, ich mag den Unternehmergeist, den positiven Blick nach vorn. Ich mag die Menschen und das amerikanische Kino. Aber ich selbst bin und bleibe Europäer und möchte auch weiterhin die Wahl haben, ob ich in Deutschland, England oder Amerika arbeite.
Haben Sie schon ein paar der anderen nominierten Filme angesehen?
Ganz viele.
Welchen finden Sie so gut, dass Sie es ihm gönnen würden, Sie auszustechen?
Bitte verzeihen Sie, aber sehr gerne niemandem.
Zu Ihren Konkurrenten gehört auch Tom Cruise mit „Top Gun: Maverick“ – der das Militärische natürlich ganz anders deutet als Ihr Film. Was denken Sie über das Soldatenbild von Hollywood?
In Deutschland haben wir zu Recht ein zwiespältiges Verhältnis zu unserer Armee und zu bewaffneten Konflikten. Amerika blickt mit einem gewissen Stolz auf zwei siegreiche Weltkriege zurück; die deutsche Schuld dagegen verbietet jede Heroisierung. Das prägt unseren Film, vom Casting an: Natürlich hatte ich viele junge deutsche Schauspieler zum Vorsprechen eingeladen – und am Ende ist es Felix Kammerer geworden. Weil er noch unbekannt war. Und weil er nicht wie ein Held aussieht, sondern wie ein wunderbar verletzlicher Gymnasiast.
Heldengeschichten haben gerade eine ganz neue Aktualität bekommen: Dem ukrainischen Soldaten, der dem russischen Flaggschiff den verbalen Mittelfinger gezeigt hat, wurde beispielsweise eine Briefmarke gewidmet.
Es fällt mir sehr schwer, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Ich stecke nicht in diesem Krieg und finde es anmaßend und arrogant, mich als Deutscher in die Lage der Ukrainer zu versetzen. Natürlich habe ich Schwierigkeiten mit Heldenbildern. Aber natürlich verstehe ich auch, warum man sie in der Ukraine jetzt braucht. In unserem Film geht es nicht um den heutigen Krieg; es geht um unsere Verantwortung für unsere Geschichte. Der möchte ich mich stellen.
Haben Sie das Gefühl, dass die Realität die Wahrnehmung Ihres Films verändert? Wirken die Fotos der Verwundeten aus dem Asow-Regiment auf die Fiktion zurück? Prägen Ihre Bilder vom Grauen des Panzereinsatzes die Debatte um Waffenlieferungen?
Hm … Ich glaube, am Ende ist es nur ein Film. Und ich maße mir nicht an, dass unsere Arbeit aktuelle Geschehnisse kommentieren oder gar beeinflussen kann. Von Amerika aus gesehen, ist die Ukraine ganz schön weit weg. Trotzdem hat unser Film dort eine große Wirkung.
Wird Ihr Film international anders wahrgenommen als in Deutschland?
Ich lese grundsätzlich keine Kritiken. Positive machen eitel, schlechte beschäftigen mich zu sehr, und beides hält von der nächsten Arbeit ab. Bei den Kinotouren haben wir uns wegen der Baftas und der Oscars auf England und Amerika konzentriert, aber ich habe auch viele Vorstellungen in Deutschland erlebt. Der einzige Unterschied: Im englischsprachigen Raum halten die Zuschauer die Luft an, wenn Paul Bäumer stirbt …
Edward Berger: In deutschen Kriegsfilmen müssen die Helden sterben
Wann denn genau? Sein letzter Kampf dauert im Film rund vier Minuten. Beim Bajonettstoß?
Genau. Wenn ihn das Bajonett trifft, sind alle geschockt. Bei Publikumsgesprächen wurde ich immer wieder gefragt, warum nicht wenigstens er am Leben bleiben kann. Erstens, weil es im Buch steht. Und vor allem, weil es ein deutscher Kriegsfilm ist. Da kann es keinen Helden geben, der am Ende überlebt. Deutsche Zuschauer reagieren auf Pauls Tod fast gar nicht. Ich war deswegen zuerst etwas verunsichert, bis mir klar wurde: Bei uns erwarten alle, dass er stirbt. Nicht nur, weil viele das Buch gelesen haben, sondern auch weil sie es erwarten. Sie spüren von Anfang an, dass es in dieser Geschichte keine Überlebenden geben kann.
Im Ausland hingegen sieht man die Geschichte wie zum ersten Mal. Der Umgang mit der Erzähltradition ist dort ganz anders, und auch der deutsche Blick auf die Weltgeschichte ist dort neu. Bei Ihnen stirbt Paul Bäumer erst in der letzten Kriegsminute – statt an einem Tag, der so ruhig war, dass der Heeresbericht im Westen nichts Neues vermeldet hat. Wieso die Zuspitzung?
Ich habe das nicht als Zuspitzung empfunden. Der Titel kommt bei mir nach dem Abspann, wenn wir auf einer Tafel beschreiben, wie viele Menschen im Ersten Weltkrieg gestorben sind: 17 Millionen. Und trotzdem wurde immer wieder berichtet, dass es an der Front nichts Neues gab. Ich beziehe den Titel also auf die Vielzahl der Toten und nicht nur auf eine zentrale Figur.
Nein, uns war diese Änderung wichtig, weil wir im Film auch die Waffenstillstandsverhandlung um Matthias Erzberger zeigen wollten, was unsere Handlung zwangsläufig ans Ende des Krieges verlegt. Als sogenanntem „Novemberverbrecher“ wurde Erzberger später die Dolchstoßlegende angehängt. Damit wurde der Zweite Weltkrieg legitimiert. Und 17 Millionen Tote waren nur der Anfang für noch mehr Gräuel. Diese Perspektive war mir wichtig; und weil Remarque sie noch nicht haben konnte, wir im Wissen um unsere Geschichte aber ein Schlaglicht auf die Zukunft werfen wollten, war diese Erweiterung der Handlung für mich essenziell.
Sie haben gesagt, dass einige Remarque-Beschreibungen zu grausam fürs Kino waren. Dabei gehen auch Sie an die Schmerzgrenze. Was haben Sie weggelassen?
Ein ganz konkretes Bild, das ich nicht verfilmen konnte, ist Remarques Beschreibung eines sterbenden Pferds. Im Buch galoppiert das Pferd im Todeskampf mit Angst- und Schmerzensschreien über das Schlachtfeld; der Bauch ist zerfetzt und es verfängt sich mit seinen Hufen in den eigenen Gedärmen. Das ist schwer zu verfilmen, und es wäre ganz sicher auch schwer zu ertragen. Ich glaube, dieses Bild hätte bei den Zuschauern eine Schmerzgrenze überschritten. Deshalb taucht es in unserem Film nicht auf.
„Im Westen nichts Neues“ ist für mehr Oscars nominiert als „Das Boot“
Wie entwickeln Sie Ihre Sequenzen?
Ich habe das Drehbuch mit einem Karteikartensystem erarbeitet, bei dem der Roman auf weißen, eine erste Drehbuchversion auf roten und historische Fakten auf grünen Karten standen. Das fertige Drehbuch haben wir später an die Bürowand geheftet, ergänzt um Fotos, die wir aus Dokumentar- und Spielfilmen genommen haben oder aber auch Kunstwerken. Lauter Einflüsse, aus denen wir dann eigene Bilder kreiert haben.
„Im Westen nichts Neues“ hat Wolfgang Petersens Rekord eingestellt, der mit „Das Boot“ für sechs Oscars nominiert war. Wieso hat Deutschland in Hollywood gerade mit Zeitgeschichte Erfolg?
Um einen guten Film zu machen, kann man nicht von irgendetwas erzählen. Davon bin ich fest überzeugt. Es muss aus einem starken inneren Gefühl heraus wachsen. Das gilt für „Das Boot“, für uns und für viele andere Filme natürlich auch. Und dabei ist es egal, um was für einen Film es sich handelt. Ich glaube, das gilt selbst auch für „Top Gun“. Wovon möchte man erzählen? Der Filmemacher braucht immer einen starken, tieferen Grund als Antwort auf diese Frage; sonst kann der Film nicht gut werden. In Deutschland ist einer dieser Gründe nun mal unsere Geschichte, weil sie alles andere überschattet. Ich würde auch gerne „La Dolce Vita“ machen, aber leider werde ich das nie können. Unsere Geschichte ist einfach unsere DNA.
„Das Boot“ ist am Ende leer ausgegangen. Haben Sie Angst vor einer Enttäuschung?
Überhaupt nicht. Die Mitglieder der Academy schauen vor allem amerikanisches Kino, da wird es sehr, sehr schwer sich durchzusetzen. Selbst wenn wir nun gar keinen Oscar gewinnen, was durchaus passieren kann: Wir sind neunmal nominiert. Das kann uns niemand nehmen. Ich weigere mich, auch nur einen Funken Negativität aus dieser Erfahrung mitzunehmen.
Und wenn es klappt? Wer hält den Oscar, wer spricht die Dankrede? Womöglich sogar Daniel Brühl, der immerhin Ko-Produzent ist?
Wenn wir den Auslandsoscar gewinnen, ist es der Regisseur. Der Oscar für den besten Film geht an den Produzenten. Sicher ist: Ob es passiert oder nicht, wir werden alle zusammen feiern.
Können Sie noch die Zähne putzen, ohne im Geiste die Dankrede zu formulieren?
Keiner möchte bei so einem Moment unvorbereitet sein, also werde ich mir etwas überlegen müssen. Aber ich habe bis jetzt wirklich noch keine Sekunde darüber nachgedacht.