Haruki Murakami„Erste Person Singular“ tanzt zwischen Realität und Traumwelt
Köln – Unglaublich, aber wahr? Das fragt man sich bei fast jeder Geschichte in Haruki Murakamis neuem Erzählband „Erste Person Singular“. Denn nicht nur in den Romanen des Japaners (zuletzt „Die Ermordung des Commendatore“) gleicht die Grenze zwischen Realität und Traumwelt einer zitternden Quecksilberlinie.
In „Charlie Parker Plays Bossa Nova“ geht das so: Der Ich-Erzähler erinnert sich, wie er als Student in der Uni-Zeitung diese musikalische Utopie ersann. Denn tatsächlich starb der Jazzer 1955, einige Jahre vor der Verbreitung des brasilianischen Musikstils in Amerika. Der Verfasser des Artikels aber erfand frech noch eine Schallplatte mit acht Titeln dazu – und entdeckte dieses unmögliche Parker-Album Jahre später tatsächlich in einem New Yorker Musikladen.
Als er das Werk am nächsten Tag kaufen wollte, war es verschwunden, doch damit nicht genug der verstörenden Wunder. Irgendwann erschien ihm nämlich „Bird“ im Traum und spielte mit „Corcovado“ das erste Stück der fiktiven Platte auf dem Altsaxofon.
Episoden aus der Jugend heraufbeschworen
Parallelwelten, Trugbilder oder das Verblassen der Erinnerung ziehen sich als Leitmotive durch das Buch. Stets beschwört ein älterer Mann (der 1949 geborene Murakami selbst?) Episoden aus der Jugend herauf. Wobei sich von damals manchmal nur ein magischer Moment ins Gedächtnis gebrannt hat.Etwa aus dem Jahr 1964 das Bild des unbekannten Mädchens, das mit wehendem Rock über den Schulflur läuft, eine Beatles-Platte wie einen Schatz an die Brust drückend. „Mein Herz hämmerte, mein Atem stockte, und alle Geräusche um mich herum klangen so gedämpft, als wäre ich auf den Grund eines Schwimmbeckens gesunken.“ Danach hat er die Namenlose nie wieder gesehen, und heute rührt ihn das inzwischen hohe Alter dieses Mädchens stärker als das eigene.
„Wer vermag mit Sicherheit zu sagen, was in der Vergangenheit wirklich passiert ist?“ heißt einer der Schlüsselsätze des Bands. Und mit den erinnerten Ereignissen gerät sogar die eigene Identität ins Zwielicht des Zweifels. So entpuppt sich die „Erste Person Singular“ womöglich als Doppelwesen, denn der Erzähler wird von einer fremden Frau des Missbrauchs an einer Freundin angeklagt. Er streitet dies ab, ohne sich seiner Unschuld ganz gewiss zu sein.
Nicht jede der neun Erzählungen strahlt hier mit gleicher Leuchtkraft, die Erinnerungen an etliche endlose Baseballspiele in einem schäbigen Stadion etwa sind eher eine Petitesse und die Fachsimpeleien insbesondere über klassische Musik klingen nicht unbedingt uneitel.
Unterwegs auf dem Hochseil des Surrealen
Ganz anders die ungeheuerliche Begegnung mit einem sprechenden Affen. Das kultivierte Tier ist für seinesgleichen ein Aussätziger, kann aber auch die Lust auf die begehrten Menschenfrauen nicht ausleben. Zur Strafe stiehlt er ihnen durch reine Willenskraft die Namen. Unsinn, denkt der Ohrenzeuge dieser Primatenbekenntnisse – bis er eine schöne Journalistin trifft, die mitten im Gespräch ihren Namen vergessen hat.
Manchmal hat Murakamis Prosa etwas Zirzensisches: Schaut her, wie elegant ich auf dem Hochseil des Surrealen tanzen und sogar Salti springen kann. In der ersten Geschichte („Auf einem Kissen aus Stein“) aber wird das Drama des Vergessens und Vergehens beschworen. Da war einmal eine Freundin, an deren Gesicht und Namen sich der Verfasser partout nicht erinnert.
Aber sie hat ihm Gedichte geschickt. Und „wenn wir Glück haben, bleiben zumindest ein paar Worte erhalten. In der Tiefe der Nacht steigen sie auf einen Hügel, kriechen in passend für sie ausgehobene kleine Löcher, bleiben dort ganz still und lassen die wilden Winde der Zeit vorüberziehen.“ Nach dem Sturm legen sie Zeugnis ab. Schöner kann man die Kraft der Literatur nicht beschreiben.
Haruki Murakami: Erste Person Singular. Erzählungen, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont Buchverlag, 217 S., 22 Euro.