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Franz Kafkas 100. TodestagWarum fasziniert der Schriftsteller bis heute?

Lesezeit 4 Minuten
ARCHIV - 30.11.1999, ---: Undatiertes Porträt des österreichischen Schriftstellers Franz Kafka. (zu dpa: «Vor 100 Jahren gestorben: Franz Kafka erlebt eine Renaissance») Foto: CTK/CTK/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Franz Kafka gehört zu den wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellern.

Geheimnisumwitterter Solitär der Literatur: Vor 100 Jahren starb der Prager Schriftsteller Franz Kafka

Sein Werk ist kein sanft gewelltes Mittelgebirge. Schroff ragt es dorthin empor, wo die Luft dünner wird, wo eisige Winde um scharf gezackte Grate pfeifen und überhängende Felswände den Kletterer einschüchtern.

Der Prager Dichter Franz Kafka, am 3. Juni 1924 mit nur 40 Jahren gestorben, gilt bis heute als geheimnisumwitterter Solitär der deutschsprachigen Literatur.

Meister virtuoser Anfänge

Einen engeren Vertrauten des Unheimlichen hat es wohl kaum je gegeben: „Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Hände, jenseits die Fußspitzen eingebohrt, in bröckelndem Lehm hatte ich mich festgebissen.“ So beginnt seine kurze Erzählung „Die Brücke“, die im zerschmetternden Sturz auf jene Kiesel endet, „die mich immer so friedlich aus dem rasenden Wasser angestarrt hatten.“

Die Kunst verstörender Anfänge beherrschte er virtuos. „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Was soll danach noch kommen? Nun, die anfangs fast grotesk komische, zunehmend bittere Geschichte eines Mannes, der sich trotz der monströsen Mutation zum Käfer noch fürs Büro ankleiden will.

Doch er wird sie nicht mehr lebend verlassen, die elterliche Wohnung, in der ihn allein die Schwester anfangs notdürftig versorgt, bevor man ihn seinem Ende entgegen vegetieren lässt. Wie Müll wird der Fremdkörper dann hinausgekehrt.

Der Logik des Albtraums gehorchend

„Die Verwandlung“ bündelt Kafkas ganze Meisterschaft, die paradoxe Selbstverständlichkeit, mit der ungeheuerlichste Ereignisse heraufbeschworen werden und nur der Logik des Albtraums gehorchen.

Diese Sogkraft entfaltet auch der beste seiner drei fragmentarischen Romane. „Der Prozess“ schickt Josef K. aufgrund einer ominösen Anklage ins labyrinthische Räderwerk einer Beamtenbürokratie, das ihn zeitlupenhaft zermalmt. Auch hier frappiert der Kontrast zwischen kristallklarer Prosa und dem undurchdringlich Mysteriösen, das sie protokolliert.

In diese Kluft starren nicht nur faszinierte Leser, sondern auch Forscher, sodass Susan Sontag Kafka schon 1964 als Opfer einer „Massenvergewaltigung“ durch ganze Armeen von Interpreten sah.

Zarter Sprößling

Der am 3. Juli 1883 in eine jüdische Kaufmannsfamilie hineingeborene Franz fremdelte insbesondere mit der breitbeinigen Lebenstüchtigkeit, die sein Vater Hermann dem zarten Sprössling anerziehen wollte. Im epischen „Brief an den Vater“ analysierte er dieses Missverhältnis filigran, doch viele Exegeten deuten auch die Erzählung „Das Urteil“ im Kurzschluss zwischen Leben und Werk.

Diese Methode verkennt sowohl die Vieldeutigkeit der Fiktion wie die Zerrissenheit ihres Schöpfers. Hier das Tagebuch-Bekenntnis „Nur die Nächte durchrasen mit Schreiben, das will ich“ – dort kein Gedanke daran, Literatur zum Brotberuf zu machen. Hier die Selbsteinschätzung „Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt“ – dort die erfolgreiche Arbeit als Jurist der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt.

Kafka wollte einerseits sein Leben durch Heirat und Familiengründung erden, was jedoch in die Ver- und Entlobungspossen mit Felice Bauer und Julie Wohryzek mündete. Auch die Beziehung zu Milena Jesenská funktionierte eigentlich nur als Briefliebe, bevor der schon von Tuberkulose Gezeichnete in Dora Diamant die ideale letzte Gefährtin fand.

Der letzte Wille wurde ignoriert

Der frühe Tod ließ den Schriftsteller einen umso längeren Schatten werfen, da er dem Freund Max Brod in maßloser Selbstkritik die Vernichtung der meisten Werke aufgetragen hatte. Nur weil dieser den letzten Willen ignorierte, konnten neben dem „Prozess“ auch „Das Schloss“ und „Der Verschollene“ sowie etliche Kurzgeschichten erscheinen.

Allerdings wurden viele meisterhafte Erzählungen schon zu Lebzeiten einzeln oder in Sammelbänden publiziert. Darunter das Kleinod „Ein Landarzt“, dessen Titelheld bei später Visite in einen wahnwitzigen Horrorkatarakt gerät und vor dem Erfrieren nur noch klagen kann: „Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.“

Diese Unerbittlichkeit verströmen viele seiner Fabeln und Parabeln – man denke nur an die ausgeklügelte Hinrichtungsmaschine „In der Strafkolonie“.

Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.
Franz Kafka

Der Autor war überzeugt: „Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns…, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

Überholte Jahrmarktsattraktion

Um das Wesen der Kunst kreisen auch vier Geschichten, die der schon Sterbenskranke schrieb. Da begegnen wir dem blutjungen Trapezartisten, dem tägliche Lebensgefahr die ersten Falten in die Stirn ritzt. Oder dem Hungerkünstler, der als Jahrmarktsattraktion aus der Mode kommt.

Als heiter-versöhnliches Selbstporträt kann man Kafkas letztes Werk „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ lesen. Bei der Nagerdame weiß man nie so recht, ob ihr Gesang nicht nur das allen Mäusen gegebene Pfeifen ist.

Aber: „Etwas von der armen kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem, nie wieder aufzufindenden Glück…“ Und selbst wenn es nur ein Pfeifen wäre, ist dieses doch „freigemacht von den Fesseln des täglichen Lebens und befreit auch uns für eine kurze Weile.“